Neutrinos sind extrem flüchtige Teilchen. Sie haben keine elektrische Ladung, nur eine winzige Masse und bombardieren uns rund um die Uhr zu Milliarden, ohne dass wir etwas davon merken würden.

Die einzig relevante Interaktion mit der bekannten Materie, aus der wir und die Dinge unseres Alltags aufgebaut sind, basiert auf der sogenannten schwachen Wechselwirkung, die diesen Namen aus gutem Grund trägt und dafür sorgt, dass der Nachweis äußerst schwierig ist.

Der Wiener Physiker Wolfgang Pauli postulierte sie 1930 in einem Brief, in dem er sie noch "Neutronen" nannte, und wagte nicht, die Idee zu publizieren, weil er Zweifel hatte, ob sie sich jemals würden nachweisen lassen.

Der bisher leistungsfähigste Detektor für hochenergetische kosmische Neutrinos befindet sich am Südpol. Das Prinzip ist das gleiche wie bei dem geplanten chinesischen Detektor.
Foto: Icecube/NSF

Doch Pauli unterschätzte die Entschlossenheit der Physikerinnen und Physiker, die ihm nachfolgten. In seltenen Fällen stoßen Neutrinos mit Bestandteilen von Atomkernen zusammen und erzeugen scheinbar aus dem Nichts Zerfallsprodukte, die für Messgeräte sichtbar sind. Doch die Wahrscheinlichkeit dafür ist extrem gering, weshalb es entweder Unmengen Neutrinos, Unmengen an Atomkernen oder im Idealfall beides braucht, um Interaktionen von Neutrinos aufzuzeichnen

Nun plant das chinesische Institut für Hochenergiephysik einen Detektor, der alle bisherigen in den Schatten stellen soll. Wie die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua Net berichtete, soll er aus 55.000 Lichtdetektoren in einem Kilometer Meerestiefe bestehen und Jagd auf seltene, hochenergetische Neutrinos machen, die von extremen kosmischen Ereignissen stammen.

Eine künstlerische Darstellung eines aktiven Galaxienkerns. Das Schwarze Loch im Zentrum erzeugt besonders energiereiche Neutrinos, die neue Einblicke in die extremen Vorgänge im Zentrum von Galaxien liefern können.
Bild: imago images/ZUMA Wire/NASA

Riesige Wassertanks

Das Prinzip soll das gleiche sein wie bei den meisten bisherigen Neutrinodetektoren. Es handelt sich im Wesentlichen um große Wassertanks, die mit lichtempfindlichen Fotorezeptoren ausgestattet sind. Stößt ein Neutrino mit einem Atomkern zusammen, wird ein sehr schnelles Elektron oder Myon frei – so schnell, dass es sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegt.

Diese auf den ersten Blick paradoxe Tatsache, die Einsteins Relativitätstheorie zu widersprechen scheint, erklärt sich, wenn man bedenkt, dass die Lichtgeschwindigkeit in einem dichten Medium wie Wasser geringer ist als im Vakuum. Ein Teilchen kann also durchaus schneller als das Licht im Wasser, aber langsamer als die Vakuumlichtgeschwindigkeit unterwegs sein.

Eine kleinere Variante des nun vom chinesischen Hochenergieinstitut geplanten Detektors befindet sich im Baikalsee, der für sein besonders klares Wasser bekannt ist. Dort ist ein Volumen von einem halben Kubikkilometer mit Detektoren wie diesem versehen.
Foto: Bair Shaibonov / Russian Institute for Nuclear Research / AFP

In diesem Fall entsteht charakteristische elektromagnetische Strahlung, sogenannte Tscherenkow-Strahlung, die in gewisser Weise ein Pendant zum aus der Luft bekannten Überschallknall darstellt.

Teilchen, die schneller sind als Licht

Dass sich auf diese Weise Neutrinos messen lassen, demonstrierte schon der in den 80er-Jahren in einer tausend Meter tiefen japanischen Mine erbaute Super-Kamiokande-Detektor, der erstmals Neutrinos von der Sonne registrierte.

Doch für die Forschung sind Neutrinos mit sehr hoher Energie interessanter, die etwa aus aktiven Galaxienkernen stammen. Sie könnten eine astronomische Ergänzung zu konventionellen Teleskopen und Gravitationswellenobservatorien darstellen, weil Neutrinos lichtundurchlässige Staubschichten, wie sie etwa um Galaxienkerne häufig sind, mühelos durchdringen. Eine solche Beobachtung gelang kürzlich einem Observatorium auf dem Südpol.

Der Ice-Cube-Detektor registriert ebenfalls Tscherenkow-Strahlung, nutzt statt Wasser aber den dicken Eisschild des Pols als lichtdurchlässiges Medium. 5.500 Sensoren wurden in Bohrlöcher bis zu 2,5 Kilometer tief im Eis versenkt und bilden ein Raster, das Lichtblitze aufzeichnen kann.

Einer der mit dem Ice-Cube-Detektor gemessenen Lichtblitze. Das vom Detektor abgedeckte Volumen beträgt etwa einen Kubikkilometer.
IceCube Neutrino Observatory

Detektoren im Wasser

Der chinesische Detektor geht einen anderen Weg, der bereits von einem russischen Neutrinoexperiment demonstriert wurde. Statt eines Wassertanks oder Eis lassen sich auch natürliche Wasserreservoirs verwenden. Im Baikalsee befindet sich ein Detektor, der Tscherenkow-Strahlung in einem Wasservolumen von einem halben Kubikkilometer nachweisen kann.

Der neue Detektor aus China soll mit einem Volumen von 30 Kubikkilometern um ein Vielfaches größer sein. Die 55.000 optischen Sensoren sollen an 2.300 Kabeln ab einer Tiefe von einem Kilometer verdächtige Lichtblitze aufzeichnen. Diese Tiefe ist notwendig, um Licht und ungewollte Neutrinostrahlung abzuschirmen, die das Ergebnis verfälschen könnten.

Ein Test im Februar, bei dem das Team um den leitenden Wissenschafter Chen Mingjun die Detektoren in einer Tiefe von 1,8 Kilometern einsetzte, war erfolgreich. Nun versuche man die Haltbarkeit und die Kosten zu optimieren, sagt Chen. Künftig will sein Team sich besonders darauf konzentrieren, Neutrinobeobachtungen mit jenen von Gammastrahlenausbrüchen zu kombinieren – mithilfe des neuen Megadetektors. (Reinhard Kleindl, 27.3.2023)