Die Zahlen steigen, mal wieder. An verschiedensten Flucht- und Migrationsrouten nach Europa werden seit Monaten mehr Ankünfte registriert (siehe Grafik). Spätestens mit dem Bootsunglück Ende Februar, als vor der kalabrischen Küste mindestens 76 Menschen starben, wird Schleppern einmal mehr der Kampf angesagt.

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat angekündigt, die Haftstrafen für Schlepper massiv zu verschärfen. Experten wie Mark Micallef befürworten das grundsätzlich. "Das sind abscheuliche Verbrechen, und ich denke, dass die Schwere der Strafen der Schwere der Verbrechen entsprechen sollte", sagt der Forscher des Expertennetzwerks Global Initiative against Transnational Organized Crime.

Grafik: DER STANDARD

Keine nationalen Alleingänge

Doch das grundsätzliche Problem der Schlepperei wird damit nicht gelöst. "Es braucht mehr Strafverfolgung, und es braucht vor allem mehr internationale Koordination. Kein einzelnes Land hat die Ressourcen, das allein zu lösen", sagt Micallef. Als Beispiel nennt er den Niger, lange ein wichtiger Knotenpunkt für Flüchtlinge und Migranten. Im Zuge mehrerer Abkommen mit der EU ist die Regierung hart gegen Schlepper vorgegangen und konnte die Netzwerke zerschlagen. Eines wurde dabei aber nicht beachtet: dass vielen Menschen im Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, dadurch eine wichtige Einkommensquelle abhandenkam.

Dennoch ist auch Ilias Chatzis dafür, das Problem in einem größeren Rahmen zu sehen und zu bekämpfen. "Regierungen konzentrieren sich auf einzelne Schlepper anstatt auf die Netzwerke, die dahinterstecken", sagt der Leiter der Abteilung für Menschenhandel und Menschenschmuggel des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC).

"Tun wir genug?"

Dabei stellt er folgende rhetorische Fragen: "Schenken wir den Elementen der organisierten Kriminalität genug Aufmerksamkeit? Setzen wir genug Ressourcen ein, um herauszufinden, wo das Geld hinfließt? Tun wir genug, um sicherzustellen, dass Migranten human behandelt werden?" Und er betont: "Schlepperei, Folter, Vergewaltigungen: Der Großteil der von Schleppern verübten Verbrechen bleibt ungestraft."

Schlepper härter zu bestrafen ist ein Ansatz der europäischen Politik, ein anderer ist, die Grenzen besser zu bewachen – entweder durch Barrieren wie Mauern und Zäune oder durch mehr Kontrollen. "Schlepperei startet nicht an der Grenze, sondern weit vorher. Wenn die Schlepper dort ankommen, ist es womöglich schon zu spät. Man muss sie bereits vorher an den Transitrouten durch internationale Zusammenarbeit abfangen", so Chatzis.

Auch dass Mauern oder Zäune überhaupt wirken, wird angezweifelt. "Für die Wissenschaft ist ein Grenzzaun so, als würde man versuchen, einen Wasserstrom mit bloßen Händen zu stoppen: Das Wasser wird irgendwann durchkommen", sagt Élisabeth Vallet, renommierte Expertin für Grenzbarrieren. Anders gesagt: Schlepper werden neue Routen erschaffen und dafür vermutlich höhere Preise verlangen.

Grenzbarrieren gut für Schlepper

Ähnlich sieht das Mark Micallef: "Ich behaupte nicht, dass Barrieren nicht funktionieren. Aber oft sind sie gut fürs Schleppergeschäft." Als Beispiel nennt er Tunesien, von wo derzeit viele Menschen nach Italien gelangen wollen. "Wir beobachten, dass Tunesier ihre Überfahrt selbst organisieren." Errichtet man Barrieren, kommen Schlepper ins Spiel.

Die Frage, wie man überhaupt zu einem Schlepper wird, lässt sich nur schwer beantworten. "Es gibt nie nur einen Grund, weshalb Menschen zu Schleppern werden", sagt UN-Experte Chatzis. In Libyen beispielsweise haben Milizen nach dem Fall Muammar al-Gaddafi rasch erkannt, dass Schlepperei für sie das große Geschäft ist, sagt Micallef.

Flüchtlinge und Migranten starten an der nordfranzösischen Küste ihren Versuch, Großbritannien zu erreichen.
Foto: AFP/SAMEER AL-DOUMY

Umstrittener Ruanda-Plan

Einen etwas anderen Ansatz bei der ganzen Problematik verfolgt London. Die britische Regierung will quasi die Nachfrage nach Schleppern verringern, indem sie Angekommenen die Möglichkeit verweigert, Asyl zu beantragen, und stattdessen nach Ruanda befördert. Trotz massiver internationaler Kritik wird daran festgehalten.

Micallef hält persönlich nicht viel von dem Plan, doch schließt er nicht aus, dass er funktionieren könnte. "Auf der anderen Seite könnte er die gleichen Auswirkungen wie Barrieren haben. Es wird ein neuer Markt für Schlepper geschaffen, die versuchen, die Menschen unentdeckt an Land zu bringen."

"Kurzfristige Politik"

Bezüglich der zentralen Mittelmeerroute hält er fest: "Die Schlepper agieren immer ausgeklügelter. Sie planen ganze Reisen, etwa von Bangladesch über Libyen nach Europa." Und so hofft er wie Chatzis, dass die Infrastruktur hinter den Schleppern bekämpft wird. Die anderen Maßnahmen, sagt er, seien "kurzfristige Politik, die das Biest nur weiter füttern". (Kim Son Hoang, 28.3.2023)