Die französische Autorin Marie NDiaye

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Maître Susane ist Anwältin in Bordeaux, ihr neuer Fall konfrontiert sie nicht nur mit Marlyne Principaux, die ihre eigenen drei Kinder ertränkt hat, sondern auch mit der eigenen Vergangenheit. Denn den Mann der Angeklagten meint Maître Susane von früher zu kennen – von damals, ehe sie sich sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet hat. "Die Rache ist mein" heißt dieser vor zwei Jahren erschienene Gesellschaftsthriller von Marie NDiaye. Die Kolonialgeschichte Frankreichs wirkt mit der illegal im Land befindlichen und unter hoch prekären Bedingungen lebenden mauretanischen Haushaltshilfe der Anwältin noch in die individuelle Aufgewühltheit hinein.

"Marie NDiayes Bücher sind komplex komponierte, in glasklarer Sprache geführte Gegenwartsanalysen, die aktuelle Fragen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sozialer Klasse aufgreifen und bis in die feinsten Verästelungen des Zwischenmenschlichen hinein verfolgen", verkündete nun am Dienstagvormittag Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) per Aussendung und gab NDiaye als heurige Trägerin des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur bekannt. "Wer denkt, es sei alles in bester Ordnung in unserer liberalen Wohlstandsgesellschaft, der irrt."

Spannung und Irritation

NDiaye demonstriert dies stets mit viel Spannung und Irritation, Zweideutigkeit und rätselhaften Beziehungen. In "Ladivine" (2014) erzählt die Autorin von Malinka, die hin- und hergerissen ist zwischen ihrer bürgerlichen Ehe und ihren afrikanischen Wurzeln. In "Ein Tag zu lang" (2012) verschwinden am letzten Tag des Urlaubs eine Frau und ein Kind und das Ferienidyll des zurückgelassenen Mannes Herman schlägt augenblicklich um. Und in "Mein Herz in der Enge" (2007) stellt sich plötzlich die Bevölkerung von Bordeaux aus unerfindlichen Gründen gegen Nadia und ihren Mann.

Identität und Klassenkonflikte, Gewalt und Geheimnisse sowie bröckelnde Fassaden der Zivilisation kennzeichnen die Romane der 1967 im französischen Pithiviers als Tochter einer Französin und eines Senegalesen geborenen Autorin. Ihre Erzählweise und Figurenzeichnung werden im selben Atemzug als raffiniert und elegant gelobt. Ihr erstes Buch veröffentlichte sie 1985 mit 17 Jahren, für "Drei starke Frauen" über drei schwarze Protagonistinnen zwischen Afrika und Europa erhielt sie 2009 als erste schwarze Autorin den renommierten Prix Goncourt zugesprochen. Zweimal war NDiaye zudem für den Man Booker International Prize nominiert.

"Gehört zu den Besten"

Zwölf Romane liegen inzwischen von ihr auf Deutsch vor, die meisten davon bei Suhrkamp, übersetzt von Claudia Kalscheuer. Dazu kommen Dramen, Drehbücher, Essays. "Manche ihrer Texte lesen sich wie Horror-Thriller", lobt die Jury (bestehend aus den den Autorinnen Anna Kim und Teresa Präauer, der Droschl-Verlegerin Anette Knoch, dem Journalisten Norbert Mayer und dem Buchhändler Robert Renk) des seit 1965 vergebenen und mit 25.000 Euro dotierten Preises. Und: "Sie gehört längst schon zu den Besten unserer Zeit."

Die Verleihung findet im Sommer im Rahmen eines Festaktes während der Salzburger Festspiele statt. Zuletzt ging die Auszeichnung etwa an Mircea Cartarescu, Andrzej Stasiuk, Karl Ove Knausgård und Zadie Smith. (wurm, 28.3.2023)