Zero.

Foto: APA/EXPA/REINHARD EISENBAUER

Hero.

Foto: REUTERS/FOEGER

Als sich die Jubeltraube in Linz nach der 88. Minute auflöste, waren die Steine längst von den Herzen gelöst und am Rollen. Teamchef Ralf Rangnick setzte sich nach der Euphorie wieder auf die Bank, zupfte sich an der Nase. Die Spieler bezogen langsam wieder ihre Positionen. Am längsten bleibt Kapitän David Alaba bei Michael Gregoritsch, fährt ihm anerkennend über den Kopf, deutet ins Publikum und immer wieder auf den langen Stürmer, der gerade das erlösende 2:1 gegen Estland erzielt hat. Als wollte er sagen: "Er. Schaut ihn an: Er!"

"Ich bin emotional sehr ausgelaugt, doch überglücklich. Mir ist sehr viel vom Herzen gefallen", sagte Gregoritsch. Der Treffer gegen die Balten sei für ihn "einer der besten Momente in meiner Karriere" und "fast auf eine Ebene mit meinem Tor bei der EM zu stellen". Bei der Endrunde im Jahr 2021 hatte der 28-Jährige beim 3:1 gegen Nordmazedonien zum zwischenzeitlichen 2:1 gescort. Auch damals war der Treffer ein immens wichtiger. Beim Interview anschließend kullerten Tränen über die Wangen des Steirers.

Tore will das Land

"Ein Stürmer wird an den Toren gemessen", heißt es ja im Fußball. Gregoritsch hat für das Nationalteam in 45 Partien bislang neun Treffer erzielt und steuerte drei Assists bei. Das ist wahrlich keine überragende Quote für einen Stürmer, wenn auch keine katastrophale. Dass er in den 45 Partien lediglich 16-mal in der Startelf stand, also demnach in 29 Spielen eingewechselt wurde, steht im Kleingedruckten und verleitet ein wenig zur Relalitivierung. Auch im Kleingedruckten steht ein Spiel, das von Teamgeist, Laufarbeit, Körperpräsenz und Aufopferung geprägt ist.

In der Partie gegen Estland wähnte sich Gregoritsch zeitweise im freien Fall. Der Grund lag in der 17. Minute. Stürmer Gregoritsch wird im Strafraum gelegt, tritt selbst zum Elfer an, knallt ihn nach kurzem Anlauf an die Latte. Nach dem Spiel gibt der Freiburg-Legionär Einblicke: "Ich habe mir recht früh vorgenommen, dass ich ihn in die Mitte schieße, dann geht er mir hoch weg." Zuvor hatte Gregoritsch all seine acht Elfer in Pflichtspielen verwertet.

Der Fehlschuss von Linz hätte beinahe wichtige Punkte auf dem Weg zur EM-Teilnahme gekostet. "Vergraben kann ich mich nicht, aber heute hätte ich es am liebsten gemacht, vor allem nach dem 0:1", gestand der Angreifer, der bereits am Freitag beim 4:1 gegen Aserbaidschan eine ähnliche Erfahrung gemacht hatte. Auch in dieser Partie ließ er beim Stand von 0:0 einen Sitzer aus, schoss dann aber das zwischenzeitliche 2:0. Vielleicht wäre der Schuss zum 2:1 in Linz ohne die Mithilfe der estischen Abwehr gar nicht reingegangen. Dann wäre die Achterbahn wohl verführt gestoppt: bei zero.

Gregoritsch will der Trainer

Vielleicht hat auch Teamchef Rangnick zu verstehen gegeben, dass Stürmer nicht mehr ausschließlich an Toren gemessen werden. Oder dass er didaktisch keiner der alten Schule ist. Keiner, der Misserfolg umgehend bestraft oder den Schüler nach einem Fehler im Diktat in die Ecke stellt und ein Lineal balancieren lässt. Rangnick ließ Gregoritsch weiterspielen, der Stürmer zahlte das Vertrauen mit immenser Laufarbeit, Robustheit im Spielaufbau und den Assists zu zwei Großchancen (Kainz und Baumgartner) zurück. Und eben dem Tor zum Sieg.

Dass der Sohn von U-21-Teamchef Werner einen wohl nicht unwichtigen Platz im Teamgefüge Rangnicks innehat, zeigen die Reaktionen der Mitspieler nach dem Tor. Und nach dem Spiel: Christoph Baumgartner bezeichnete Gregoritsch als "einen meiner besten Freunde im gesamten Fußballgeschäft" und sagte über den ÖFB-Siegestorschützen: "Er hat gearbeitet wie ein Schwein." Und: "Gerade in diesem Jahr hat er gezeigt, wie gut er ist, und hat viele Leute Lügen gestraft, die ihn schon abgeschrieben haben. Ich kenne keinen Spieler, der so oft abgeschrieben wurde und immer wieder zurückkommt. Er hat einfach eine brutale Qualität in der Box, das hat er heute wieder gezeigt."

Emotion will das Publikum

Aber für Gregoritsch gilt auch: Mit der Aufmerksamkeit kommt die Kritik. So ist das im Fußball. Vielleicht ist der Stürmer kein Kicker zum Zungeschnalzen, kein Zangler, keiner, der einmal ohne Probleme zwei, drei Gegenspieler stehen lässt und die genialen, überraschenden Momente aus dem Fußgelenk schüttelt – also kein Marko Arnautovic. Steirische Feldarbeit statt Joga Bonito. Mitunter wirkt der Kicker mit seinen 193 Zentimetern Körperhöhe etwas hölzern, dass man aber auch genau dieses Holz für ein funktionierendes, modernes Fußballspiel braucht, zeigt eine andere Statistik: 212 Partien in der deutschen Bundesliga hat er auf dem Buckel. Keine Selbstverständlichkeit.

Auch keine Selbstverständlichkeit ist, dass der Mann, der beim GAK in Graz das Kicken lernte und noch immer der jüngste Liga-Torschütze der Geschichte ist, bei Interviews nach den Spielen ungewohnt tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt gibt. Auch das ist eine Art von Routine – eine gute, angenehm erfrischende. Glattgebügelt ist meistens nur der Körper vom Einsatz auf dem Platz. Wenn andere die antrainierten Stehsätze ins Mikrofon jagen, gibt sich der Stürmer selbstkritisch, formuliert, wie es sich anfühlt auf dieser Achterbahn. (Andreas Hagenauer, 28.3.2023)