Eine Frau und ein Mann bei der vierten Parlamentswahl seit 2021.

Foto: IMAGO/Georgi Paleykov

Je öfter die Wahlen stattfinden, desto geringer wird die Wahlbeteiligung. Viele Bulgarinnen und Bulgaren sehen einfach keinen Sinn mehr darin, zu den Urnen zu gehen, weil die Parteien, die sie ins Parlament wählen, seit zweieinhalb Jahren nicht in der Lage sind, tragfähige und längerfristige Koalitionen zu bilden.

Seit April 2021 finden bereits zum fünften Mal Parlamentswahlen statt. Am Sonntag ist es wieder einmal so weit. Wessela Tschernewa vom European Council on Foreign Relations in Sofia sagt, dass die beiden reformorientierten liberalen Parteien, "Wir setzen den Wandel fort" (PP) und die Demokratische Partei (DP), gemeinsam etwa gleichauf liegen wie die Klientelpartei Gerb des früheren Premiers Bojko Borissow, die Teil der mächtigen Europäischen Volkspartei ist.

"Dieser kleine Unterschied macht es schwierig für die Verhandlungen nach den Wahlen", meint Tschernewa. Sie sieht zwei Möglichkeiten: Die PP und die DP könnten mit Unterstützung der Gerb eine Koalition bilden. Die andere Option wäre eine von der Gerb geführte Regierung mit der rechtsradikalen Pro-Kreml-Partei und den Sozialisten, die keine klar prowestliche Position einnehmen.

Aufführung in zwei Akten

Offensichtlich sei jedenfalls, dass die rechtsradikale "Wiedergeburt" und die Gerb einander im Wahlkampf nicht an den Kragen gehen – was als eine Art Nichtangriffspakt für spätere Koalitionsverhandlungen interpretiert werden kann. Im Herbst finden zudem Lokalwahlen in Bulgarien statt, die für die Gerb wichtig sind, weil sie viele Bürgermeister stellt. Die Koalitionsverhandlungen nach der Parlamentswahl werden deshalb wohl auch im Zusammenhang mit den Optionen im Herbst gesehen. "Es ist eine Aufführung in zwei Akten. Der erste findet am 2. April statt, der zweite im Oktober", sagt Tschernewa zum STANDARD.

Sicher sei, dass das Land endlich eine normale Regierung brauche. "Wenn man wieder zulässt, dass die Koalitionsverhandlungen scheitern, wird der Preis dafür für alle Parteien hoch sein", prognostiziert sie.

Regierungen nach Gutdünken

Mittlerweile gibt es auch bereits verfassungsrechtliche Bedenken wegen des langen Regierungsvakuums. Denn weil es keine gewählten Regierungen gibt, regiert praktisch der eigentlich nur repräsentative Staatschef Rumen Radew, der technische Regierungen nach seinem Gutdünken einsetzt.

"Der Präsident war in diesen letzten zweieinhalb Jahren fast ständig an der Macht, mit Ausnahme der Regierung von Kiril Petkows 'Wir setzen den Wandel fort', die sieben Monate an der Macht war. Diese Position des Präsidenten ist aber gegen den Geist der Verfassung", sagt Tschernewa. Die Parteien sollten das unterbinden und die Macht zurückerobern.

Zusammenarbeit mit der Gerb?

Eine Koalition der reformorientierten Kräfte PP und DP mit der als notorisch korrupt geltenden Gerb ergäbe zwar eine stabile Mehrheit, allerdings haben PP und DP bisher immer eine Zusammenarbeit mit der Gerb ausgeschlossen, weil sie davon ausgehen, dass mit der Klientelpartei keine tiefgreifende Justizreform möglich ist. Diese ist aber notwendig, um endlich Rechtsstaatlichkeit in dem südosteuropäischen Staat einzuführen.

Insbesondere der mächtige Generalstaatsanwalt Ivan Geschew, der als Borissow-Vertrauter gilt, wird von Rechtsexperten seit Jahren als zentrale Figur für das Unterlaufen der Justiz durch parteiliche Interessen genannt. Offen ist also, ob in einer Regierung, die auch von der Gerb unterstützt wird, Geschew an Macht verlieren wird.

Gewaltenteilung einführen

Die Rechtsexpertin Radosweta Wassilewa vom University College London meint, dass das künftige Parlament in mindestens drei Bereichen die Gewaltenteilung einführen müsste, um im Sinne eines demokratischen Rechtsstaats "ein gewisses Maß an Normalität zu erreichen". Dazu gehörten die Staatsanwaltschaft, der Oberste Justizrat, der für die Wahl und Beförderung aller Richter verantwortlich ist, und die Antikorruptionsbehörde.

Darüber hinaus müsse Bulgarien seine Strafprozessordnung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta in Einklang bringen. Wassilewa verweist darauf, dass sich Bulgarien trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte seit 13 Jahren beharrlich weigert, einen rechtlichen Mechanismus einzuführen, der ermöglichen soll, dass auch der Generalstaatsanwalt – zurzeit Geschew – überprüft werden kann.

Status quo beibehalten

Sie meint, dass es in Bulgarien starke Kräfte gibt, die gar keine stabile Regierung, sondern den Status quo beibehalten wollten. Die populistische Partei des Entertainers Slawi Trifonow verweigerte sich etwa komplett der Regierungsverantwortung. Bei der letzten Wahl im Oktober 2022 erkannten auch die Wähler, dass seine Partei gar nichts gestalten wollte, und wählten sie nicht mehr ins Parlament.

Die nunmehrige Wahl ist auch wegen der geopolitischen Ausrichtung des Landes wichtig. Denn in Bulgarien gibt es – ähnlich wie sonst nur in Ungarn – starke politische Kräfte, die mit dem Kreml sympathisieren. Der Sicherheitsanalytiker Bojko Nikolow meint, die Kluft zwischen den Parteien, die gegen oder für die Kreml-Politik seien, sei noch nie größer gewesen. Die Sozialisten versuchten sich als "neutral" darzustellen. Die ehemaligen Kommunisten würden aber noch immer mit Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion sympathisieren.

Abhängigkeit von Russland

Petkows Partei "Wir setzen den Wandel fort" sei zwar ganz klar prowestlich, erkläre aber auch nicht konzise, wie Bulgarien sich von der russischen Abhängigkeit lösen könne. Die Gerb selbst habe bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie nahe sie den russischen Interessen stehe. Schließlich war es unter Borissows Gerb-Regierung, dass die Turk-Stream, die russisches Gas quer durch Bulgarien transportiert, gebaut wurde. "Das stinkt noch immer nach Korruption", so Nikolow zum STANDARD.

"Zweifellos hat der Kreml weiterhin Einfluss in Bulgarien. Er ist nicht mehr so stark wie früher, aber ich würde nicht sagen, dass er drastisch gesunken ist. Es handelt sich um Verbindungen und Beziehungen, die in den letzten 30 Jahren aufgebaut wurden. Und keine der Parteien zeigt den Wunsch, die langfristige Abhängigkeit Russlands zu verringern", erklärt der Analyst.

Nikolow denkt, dass es auch unter einer neuen Regierung schwierig sein wird, die "Reduzierung der Energieabhängigkeit von Russland" zu bewältigen. Denn solche Entscheidungen hätten einfach keine klaren Mehrheiten in Bulgarien. "Russland befindet sich zwar im Krieg mit der Ukraine, aber bulgarische Politiker haben gezeigt, dass sie für Geld in der Lage sind, ihre Position um 180 Grad zu ändern, ohne sich um ihre Wähler zu kümmern." (Adelheid Wölfl, 2.4.2023)