Im Gastblog berichten Benjamin Wild und Jona Schlegel von einem Forschungsprojekt zu Graffiti am Donaukanal.

Menschen, wo auch immer sie sind, hinterlassen seit jeher Markierungen. Graffiti finden sich in den französischen Höhlen von Lascaux, als Gladiatorenabbildungen in den Straßen des römischen Pompeiis oder als Gefangenenritzungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert im Beauchamp Turm in London. Damals wie heute gibt diese Art des kulturellen Erbes Einblicke in unsere Lebens- und Denkweisen. Der Umgang damit unterscheidet sich jedoch grundlegend.

Während Graffiti, die hunderte oder tausende von Jahren alt sind, mit größter Sorgfalt wissenschaftlich dokumentiert werden, geschieht dies bei modernen Graffiti kaum. Indigo, ein Graffiti-zentriertes Forschungsprojekt, versucht genau das zu ändern. Mittels modernster Methoden werden die Graffiti am Donaukanal dokumentiert, inventarisiert und bald der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht.

Ein kleiner Ausschnitt des digitalisierten Donaukanals gegenüber der Urania. Das 3D-Modell bildet die Grundlage für räumliche, zeitliche und inhaltliche Analysen der Graffiti.
Project INDIGO

Einzigartiges Freilichtlabor Donaukanal

Seit September 2021 arbeiten wir, ein Team aus 13 interdisziplinären Forschenden, im Rahmen von Indigo (INventory and DIsseminate Graffiti along the DOnaukanal) an der systematischen Dokumentation, Archivierung und Veröffentlichung der Graffiti entlang des Wiener Donaukanals. Der öffentliche Raum rund um diese zentrale Wasserstraße ist seit den frühen 1980er-Jahren ein Graffiti-Hotspot. Praktisch jede Fläche ist heute mit Graffiti bedeckt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nahezu jedes neues Piece, Mural, Tag oder Poster entlang des mehr als drei Kilometer langen Graffiti Areals, die darunterliegende(n) unwiederbringlich überdeckt. Gerade in den warmen Sommermonaten finden sich Bereiche, die innerhalb weniger Tage völlig neu texturiert werden. Im Laufe der Jahre haben sich dadurch mancherorts zentimeterdicke Farbschichten angesammelt.

Links: überlagernde und teilweise bröckelnde Farbschichten in der Nähe der Rossauer Brücke.
Rechts: Karte vom Donaukanal mit Indigos Forschungsbereich (blau) und der Lage der vergleichsweise sehr kurzen legalen Wienerwände (orange).
Foto: project INDIGO

Die Wiener Taube als Graffiti-Symbol

Die mit Abstand aktivsten Zonen sind die im Rahmen des Projekts "Wienerwand" als legal markierten Flächen. Am Donaukanal gibt es drei solcher Wände, die insgesamt nur circa 300 Meter lang sind. Gekennzeichnet wird eine Wienerwand durch die vom Künstler Thomas Mock entworfene "Wiener Taube", eine Reliefplatte, die oft bunt besprüht selbst Teil eines Graffitos wird. Die Taube wurde dabei nicht zufällig gewählt, symbolisiert sie doch als umstrittene Bewohnerin der Stadt ausgezeichnet das ambivalente Verhältnis der Bevölkerung zu Graffiti.

Zeitlicher Verlauf (September bis Dezember 2021) der Graffiti nahe der Rossauer Brücke. Vor allem die unteren, leicht erreichbaren Flächen sind beliebt.
Foto: project INDIGO
Wienerwände, so wie hier bei der Kaiserbadschleuse, werden von erfahrenen und unerfahrenen Sprayern und Sprayerinnen gleichermaßen genutzt. Politische Botschaften sind genauso zu finden wie Graffiti, die während Graffitiworkshops entstehen.
Foto: project INDIGO

Digitaler Donaukanal-Zwilling

Für die Dokumentation greift Indigo auf das Naheliegende zurück: Fotos. Weit über 100.000 hat das Indigo Team auf ihren wöchentlichen Touren seit September 2021 bereits aufgenommen, Tendenz angesichts des nahenden Sommers stark steigend. Die Fotos dienen einerseits zur Dokumentation jedes Graffitos, andererseits werden sie genutzt, um daraus ein dreidimensionales Modell und somit eine digitale Kopie des Donaukanals mit seinen Wänden zu erstellen – einen digitalen Zwilling. Dieser digitale Zwilling bietet dann die Möglichkeit, virtuell über den Donaukanal zu schlendern, und sich nicht nur räumlich sondern auch durch die Zeit zu bewegen.

Damit die Graffiti-Bilder an der richtigen Stelle im 3D Modell liegen, wird Photogrammetrie eingesetzt. Dabei sucht ein "computer vision"-Algorithmus in den Fotos nach markanten Punkten und vergleicht diese mit markanten Punkten in älteren Fotos. Werden übereinstimmende Punkte gefunden, können diese verknüpft und die Bilder entsprechend verortet werden. Dadurch wird die genaue Position des abgebildeten Graffitos im 3D Modell bestimmt. Das ist auch wichtig, da Graffiti häufig Bezug auf ihre räumliche Umgebung nehmen.

Neben der räumlichen Verortung spielt Farbe eine wichtige Rolle in der Dokumentation. Jeder Hobbyfotograf und jede Hobbyfotografin weiß, wie schwer es ist, Farben richtig einzufangen. Je nach Tageszeit, Wetter und Kameraeinstellungen kann ein sattes Gelb einmal orange, dann wieder beige oder weißlich wirken. Eine Herausforderung, wenn man sich einem bunten Phänomen wie Graffiti fotografisch nähert. Deshalb widmet Indigo der farbgetreuen Fotografie einen eigenen Forschungsschwerpunkt. Dabei kommen unter anderem Farbreferenzplatten zum Einsatz, die zur Farbkalibrierung der Fotos verwendet werden.

Des Weiteren wird jedes der hochauflösenden Fotos mit einer Vielzahl an Hintergrundinformationen wie Dokumentationszeitpunkt, Höhe, Länge, Motiv, Technik oder verwendete Farben(n) abgespeichert. Dafür wurde ein sogenannter Graffiti-Thesaurus erarbeitet, der die verwendete Terminologie vereinheitlicht und erklärt.

Links: Ausschnitt aus dem 3D Modell unter der Augartenbrücke. Rechts: eine Farbreferenzplatte, die genutzt wird, um die Farben in den aufgenommenen Fotos zu kalibrieren.
Foto: project INDIGO

Graffiti-Forschung für alle

Das 3D-Modell sowie alle Daten werden der breiten Öffentlichkeit am Projektende über eine Onlineplattform zugänglich gemacht. Dadurch wird Forschenden, Digitaltouristinnen, Digitaltouristen und anderen Interessierten ermöglicht, eine virtuelle Graffiti-Reise am Donaukanal durch Zeit und Raum anzutreten. Längst überdeckte Werke können so Schicht für Schicht digital "ausgegraben" und die zeitliche Entwicklung der Schichten nachvollzogen werden. Die Plattform wird auch inhaltliche Abfragen ermöglichen. Dadurch können die Graffiti beispielsweise nach bestimmten Farben, Stilen oder Themen gefiltert werden.

Neben den gesammelten Daten werden auch alle anderen Forschungsergebnisse des Projekts der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Dies umfasst unter anderem diverse Artikel in Fachzeitschriften, in denen wir über unsere Forschungsergebnisse berichten und Softwarepakete, die unter anderem zur Farbkalibrierung verwendet werden. Das stellt die Wiederverwendbar- und Langlebigkeit sicher und maximiert damit den wissenschaftlichen Nutzen des Projekts.

Bereits im Juni 2022 haben wir im Rahmen von Indigo eine internationale Graffitikonferenz in Wien organisiert. Dabei zeigte sich, dass unsere Forschung den Nerv der Zeit trifft und großes Interesse in Bereichen wie Soziologie, Linguistik und Kunstgeschichte besteht. Heuer wird es unter dem Namen goIndigo 2023 eine weitere Konferenz geben. Das Ziel ist (Graffiti-)Forschende und Interessierte aus aller Welt zu vernetzen und den Austausch zu fördern. Denn das urbane Chamäleon Graffiti gibt es in (fast) jeder Stadt und es ist sicher nicht vom Aussterben bedroht. (Benjamin Wild, Jona Schlegel, 30.3.2023)