Auf primärer Ebene alles im Blick: Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist elementar für den Verlauf der Behandlung.
Foto: Heribert Corn

Heilsbringer in einem schwächelnden Gesundheitssystem oder doch ein Geschäftsmodell mit deutlichen Schwächen? Zwischen diesen Polen bewegt sich zumindest in Österreich seit vielen Jahren die Debatte über die sogenannten Primärversorgungseinheiten (PVE). Auf dem Papier klingt die Idee durchaus gut: In einem Netzwerk oder einem Zentrum arbeiten mehrere Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner sowie verschiedenes Gesundheits- und Sozialpersonal eng im Team zusammen.

Doch im gesundheitspolitischen Alltag offenbart sich der erste Haken: Der Ausbau von Primärversorgungseinheiten ging in den letzten Jahren nur sehr schleppend voran. Aktuell gibt es in Österreich 40 Primärversorgungszentren (PVZ) in sieben Bundesländern. Das ursprüngliche Ziel, bis 2021 gesamt 75 solcher Einrichtungen zu schaffen, wurde verfehlt. Die türkis-grüne Bundesregierung reagierte kürzlich mit einer PVE-Offensive: Bis 2025 soll das Angebot auf 121 Zentren verdreifacht werden.

Gut gebucht

Der Parkplatz vor dem PVZ Enns ist an diesem frühen Nachmittag bis auf den letzten Parkplatz gefüllt. Ähnlich das Bild im großen Wartebereich. Auf den gut gefüllten Plätzen offenbart sich das gesundheitlichen Elend dieser kleinen Welt: vom Schnupfen über einen Hexenschuss bis hin zum Zeckenstich.

Wolfgang Gruber hat an einem Tisch in der kleinen Ordination Platz genommen. Der Mann mit einem offensichtlichen Hang zu exzentrischer Kleidung ist wohl einer der umtriebigsten Gesundheitsmanager im Bereich der PVEs. Seit 2016 Geschäftsführer des PVZ Enns, ab 2017 dann dazu die Leitung des PVZ Marchtrenk, seit 2018 zusätzlich Geschäftsführer der PVE Neuzeug–Sierning und Geschäftsführer des PVZ Sonnwendviertel in Wien. Hinzu kommen noch Beraterfunktionen etwa bei der Entstehung der PVEs in Vöcklabruck, Bad Ischl, Mittersill und Mauer.

"Vollgas" in der Primärversorgung

Für Gruber ist die Primärversorgung jedenfalls ein Erfolgsmodell: "Das funktioniert Vollgas." Es drehe sich alles um den Patienten. Gruber: "Wenn dich heute der Arzt zum Physiotherapeuten schickt, erfährt der Arzt normalerweise nicht, wo du hingegangen bist, er erfährt nicht, was der Therapeut gemacht hat und was er empfiehlt." In der Primärversorgung sei hingegen der Therapeut ein Angestellter: "Und darf damit datenschutzrechtlich auf die Patientenakte zugreifen – wir dokumentieren in dieselbe Kartei. Jetzt ist der Patient plötzlich wirklich in der Mitte." Heute arbeiten in Enns bei voller Besetzung 42 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Davon sind sechs Pflegefachkräfte, neun medizinische Assistentinnen und 13 Therapeuten. Außerdem findet man innerhalb des PVEs siebeneinhalb Kassenstellen, also sieben Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin.

Und doch scheint nicht alles Gold, was in der Primärversorgung glänzt. So beklagen Patienten mitunter lange Wartezeiten. Des Übels Wurzel sieht Gruber vor allem auch beim Patienten selbst: "Die Allgemeinmedizin wird aktuell regelrecht überschwemmt, was an der mangelnden Gesundheitskompetenz liegt. Menschen, die sich selbst nicht mehr sicher sind, was mit ihnen ist. Die wollen vom Arzt freigesprochen werden. 40 Prozent unserer Patienten reicht es, ihnen zu sagen ‚Du stirbst heute nicht‘, dann gehen die befriedigt heim.

Lange Planungsphase

Die Ausbauoffensive der Bundesregierung sieht der PVZ-Geschäftsführer aber durchaus kritisch: "Das Tempo ist zu ambitioniert. Du kannst niemanden zwingen, sich selbstständig zu machen. Das dauert, bis sich da die passenden Ärzte finden. Die Politik glaubt ja wirklich, sie schnippt nur mit dem Finger, und das neue PVE ist da."

Es brauche "Minimum ein Jahr Vorlaufzeit". Gruber: "Es ist richtig viel Arbeit. Die Politik ist da völlig blauäugig. Ich muss zunächst drei Ärzte finden, die sich verstehen und bereit sind, gemeinsam das unternehmerische Risiko zu tragen. Und in der Region müssen zusätzlich drei Kassenstellen frei sein. Die drei Allgemeinmediziner müssen dann eine Firma gründen, mit dem Wissen, sie können frühstens in eineinhalb Jahren einen Euro verdienen." So jemand sei eben nicht leicht zu finden.

Der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer sieht im STANDARD-Gespräch aber nicht den mangelnden Unternehmerwillen als großen Pferdefuß der Primärversorgungszentren. "Faktum ist, dass Primary Health Care tatsächlich die einzig sinnvolle Art und Weise ist, ins Gesundheitssystem einzusteigen. Primary Health Care heißt, dass alles, was wohnortnahe und ambulant erbracht werden kann, auch dort erbracht werden kann und soll. Das ist die Basis für die abgestufte Versorgung." Diese sei "in allen Ländern, die den Ausbau forciert haben, enorm erfolgreich".

Dezentraler Patient

Es wird dabei nach dem "biopsychosozialen Krankheitsbild" gearbeitet, der Patient "holistisch" gesehen. Pichlbauer: "Dafür braucht es deutlich mehr Personal. In Ländern, wo es funktioniert, sind doppelt so viele Hausärzte und fünfmal so viele Pfleger im Einsatz – dafür deutlich weniger Fachärzte und Spitäler." Doch diese Umschichtung in Richtung Primärebene funktioniere in Österreich nicht. "Bei einem PVE geht es laut Konzept in erster Linie um "das Team rund um den Hausarzt – und damit ist eigentlich alles gesagt. Es ist eine Absage an eine patientenorientierte dezentrale Versorgung."

Es werde ein Team rund um Kassenärzte gebildet und man hoffe, dass Primary Health Care herauskomme – was nicht passiere. Pichlbauer: "Eigentlich hätte die Ärztekammer schon vor Jahren damit beginnen müssen, die Hausarztstellen zu mehren – zulasten der Facharztstellen. Hat sie aber nicht getan. "Weil die Fachärzte gar nicht wollen, dass die Hausärzte gestärkt werden", sagt der Gesundheitsökonom.

Pichlbauer bringt das Argument, dass sich mit Blick auf die Patientenzahlen rund um die vorhandenen PVEs "in den Spitalsambulanzen nichts geändert hat". Aber genau das hätte sich ändern müssen. "Hätten wir das dänische Modell, dann hätten etwa 2014 2,4 Millionen Österreicher weniger einen Facharztbesuch gehabt." Das wären 500 Millionen Euro, die sie letztlich den Fachärzten wegnehmen würden. "Die werden demnach einen Teufel tun, Primary Healthcare zu unterstützen." (Markus Rohrhofer, 29.3.2023)