Bei all den Vorwürfen: Tiktok hat eine gewaltige Fan-Basis und spielt auch eine enorme Rolle in der Zivilgesellschaft.

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Tiktok ist so erfolgreich, dass es von allen anderen kopiert wird. Aber die Videoplattform ist unter Druck. Es ist nicht nur der mangelnde Jugendschutz oder das langsame Tempo bei der Inhaltsmoderation, mittlerweile steht Tiktok im Verdacht, der verlängerte Arm der Kommunistischen Partei Chinas zu sein. Doch wird wirklich im Sinne des Regimes in Peking spioniert? Kann man eine App verbieten, und welche Bedeutung hat Tiktok eigentlich für die Jugend?

Frage: Seit einigen Jahren dominiert Tiktok den Social-Media-Markt. Andere Medien versuchen die App zu kopieren. Wie groß ist die Bedeutung von Tiktok inzwischen?

Antwort: Tiktok wird mittlerweile von über einer Milliarde Menschen weltweit genutzt und hat in Europa und den USA jeweils 150 Millionen Userinnen und User. In Nordamerika ist Tiktok noch einmal deutlich populärer als in Europa, aber auch hierzulande sollte man die Bedeutung der Video- und Musikplattform nicht unterschätzen. 68 Prozent aller österreichischen Jugendlichen zwischen elf und siebzehn Jahren nutzen die App. Das ist auch der Grund dafür, warum die österreichische Regierung so stark auf Tiktok vertreten ist: Es ist oft der einzige Weg, wie man die Jungwähler erreicht.

Frage: Was genau wirft man Tiktok eigentlich vor?

Antwort: Da gibt es zwei große Komplexe: einerseits den mangelnden Jugendschutz und Vorwürfe der Spionage auf der anderen Seite. Weltweit Schlagzeilen machen etwa die immer wieder auftauchenden Challenges, die mitunter tödlich enden. Da gab es das Beispiel der Blackout-Challenge, bei der junge Menschen die Luft anhalten, bis sie das Bewusstsein verlieren. 82 Kinder sind weltweit an den Folgen gestorben. Berühmt ist etwa auch die sogenannte Tidepod-Challenge, bei der Kinder Waschmittel essen. Tiktok fiel in der Vergangenheit immer wieder durch äußerst langsame Reaktion auf oder moderierte gefährliche Inhalte nur halbherzig weg. Aktuell steht aber das Thema Spionage im Vordergrund. In Europa und den USA befürchtet man, dass Tiktok im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas Daten sammelt.

Frage: Welche konkreten Vorwürfe der Spionage gibt es?

Antwort: Da gibt es gleich mehrere Kritikpunkte: Private Nachrichten sind bei Tiktok nicht verschlüsselt. Das sind sie aber bei Facebook oder Instagram auch nicht. Theoretisch könnte das Unternehmen also mitlesen. Tiktok greift auch auf die Standortdaten und die Kontakte am Smartphone zu – das sind aber alles Dinge, die man notfalls in den App-Einstellungen deaktivieren kann. Das ist alles zwar problematisch, aber in der Branche nicht ungewöhnlich.

Ein größeres Problem steckt im integrierten Browser von Tiktok. Klickt man etwa einen Link in einem Video an, öffnet sich der Webshop im internen System von Tiktok. Dort könnte die App theoretisch sämtliche Tasteneingaben und somit Benutzernamen und Passwörter abgreifen. Aber auch das hat Tiktok nicht erfunden, Facebook und Instagram machen das genauso.

Einen Beweis, dass Spionage betrieben wird, gibt es aber. Im Herbst des Vorjahres wurden US-Journalistinnen und -Journalisten mittels der Tiktok-App überwacht. Man hat damals versucht, anhand der Standortdaten einen Whistleblower innerhalb des Mutterkonzerns Bytedance zu enttarnen, der immer wieder Informationen an Medien weitergab. Das Ganze hatte sogar einen internen Codenamen: "Project Raven".

Frage: Was waren die Folgen des Datenskandals?

Antwort: Bytedance leugnete den Vorfall anfangs, musste den Lauschangriff später zugeben, sprach aber von "Einzelfällen". Demgegenüber stehen Recherchen von US-Journalisten, die eher darauf hindeuten, dass es zumindest zeitweise zu größeren Überwachungsaktionen gekommen ist. Es gibt Tonbandaufnahmen von 80 internen Besprechungen innerhalb von Bytedance, in denen immer wieder die Rede davon ist, dass man auf die Daten von Tiktok-Nutzenden in den USA zugegriffen hat. Einige Manager wurden daraufhin gefeuert, und Bytedance versprach Besserung.

Frage: Was für ein Konzern ist Bytedance?

Antwort: Bytedance ist der chinesische Mutterkonzern von Tiktok und wurde von einem ehemaligen Microsoft-Mitarbeiter namens Zhang Yiming gegründet. Der Konzern bietet in China eine Vielzahl von Apps an, von der Nachrichtenplattform Toutiao (etwa: Schlagzeilen) bis hin zu Apps für Videoschnitt und mobilen Spielen und ist eine der wichtigsten Inhaltsplattformen in China. Die westlichen Geschäfte führt Bytedance von Singapur aus, von wo aus auch Tiktok betrieben wird.

Frage: Wenn die App von Singapur aus betrieben wird – ist Tiktok überhaupt "chinesisch"?

Antwort: Bytedance versucht schon seit einigen Jahren, Tiktok als "westliche" App zu verkaufen. Diese Abgrenzung gelingt nicht immer: Das Hauptquartier von Tiktok hat seinen offiziellen Sitz in Singapur, von wo aus sich die App auch weltweit verbreitet hat – dort residiert man im selben Wolkenkratzer, den auch Konzernmutter Bytedance für ihre Geschäfte außerhalb Chinas bezogen hat. Aber: Tiktok gibt es in China tatsächlich nicht. Dort heißt die App Douyin, und sie schaut auch genauso aus wie Tiktok im Westen.

Frage: Worin unterscheiden sich Douyin und Tiktok?

Antwort: Douyin wird viel stärker von den chinesischen Zensurbehörden überwacht. So werden in der chinesischen Variante Inhalte zum Massaker am Tian-anmen-Platz völlig ausgeblendet. Da Inhalte nicht so frei kommuniziert werden können, ist Douyin viel stärker auf Onlinekäufe und Werbung ausgerichtet. Nutzer unter 14 Jahren können nur auf kindersichere Inhalte zugreifen und die App nur 40 Minuten pro Tag nutzen. Sie können die App zwischen 22 Uhr und 6 Uhr morgens nicht öffnen.

Frage: Wie nah steht Bytedance der chinesischen Regierung?

Antwort: Bytedance hat, wie viele andere chinesische Unternehmen auch, ein internes Komitee der Kommunistischen Partei Chinas und pflegt darüber hinaus eine strategische Partnerschaft mit dem Ministerium für öffentliche Sicherheit, das in China unter anderem für die Zensur des Internets verantwortlich ist. Bytedance übernimmt dabei die Öffentlichkeitsarbeit für die Zensurbehörde.

In einem Tochterunternehmen von Bytedance wird einer von drei Vorstandssitzen von einer ehemaligen Führungskraft der Internetzensurbehörde Chinas, Cyberspace Administration of China, eingenommen. Wu Shugang kontrolliert laut einem Bericht der "Financial Times" Inhalte des Onlineangebots von Bytedance und redet auch in Fragen der Unternehmensstrategie und der Investitionen mit. Laut Bytedance habe Shugang aber keinen Einfluss auf die globalen Aktivitäten des Konzerns.

Die kommunistische Führungsriege hat Bytedance dennoch fest in der Hand: 2018 wurde dem Unternehmen vorgeworfen, Inhalte nicht streng genug im Sinne Pekings zu moderieren. Anschließend wurde Firmengründer Zhang Yiming so sehr unter Druck gesetzt, bis dieser eine Stellungnahme verlas, in der er versprach, künftig der Agenda der KP zu dienen.

Frage: Wie hat Tiktok bislang auf die Spionagevorwürfe reagiert?

Antwort: Im Fall von "Projekt Raven", also dem gezielten Ausspionieren von Journalistinnen und Journalisten, wurden die zuständigen Manager angeblich gekündigt, und Bytedance hat nach einigem Hin und Her Besserung gelobt. Tiktok selbst hat immer wieder betont, dass man die Daten von europäischen Userinnen und Usern nur in Europa speichert und nur dort verarbeitet.

Frage: Was sagt die chinesische Regierung zu den Spionagevorwürfen?

Antwort: Bislang hat sich die chinesische Regierung selbst mit Kommentaren sehr zurückgehalten. Zwar kritisieren immer wieder einzelne Botschafter, dass die Debatte nur auf Vorurteilen im Westen gegenüber China beruht, aber die chinesische Regierung steckt in einer Zwickmühle. Einerseits muss sie natürlich darauf achten, dass die eigenen Technologiekonzerne nicht von amerikanischen oder europäischen Märkten ausgeschlossen werden. Andererseits kann sie nicht zu sehr auf den diplomatischen Putz hauen, schließlich hat Bytedance immer kommuniziert, dass Tiktok keine chinesische App ist. Würde die chinesische Regierung zu stark auftreten, wäre diese Argumentation schwierig.

Frage: In den USA wird ja schon länger darüber diskutiert, dass Tiktok dort komplett verboten werden könnte. Wie ist der aktuelle Stand?

Antwort: Aktuell ist die Nutzung der Tiktok-App auf Diensthandys von Beamtinnen und Beamten in den meisten Bundesstaaten verboten. In Utah geht man einen Schritt weiter, da will man den Zugang Minderjähriger zu sozialen Netzwerken stark einschränken. Ein neues Gesetz sieht unter anderem vor, dass Social-Media-Unternehmen das Alter der Nutzenden überprüfen müssen, bevor sie ein Konto eröffnen können. Das gilt für alle Personen unter 18 Jahren.

Aber aktuell wird auch im US-Kongress ein Totalverbot der App diskutiert. Das heißt, US-Amerikanerinnen und -Amerikaner hätten dann keinen Zugriff mehr auf Tiktok. Der Kongress möchte dem Präsidenten der USA die Möglichkeit geben, ein Verbot auszusprechen – das kann er bislang nicht einfach anordnen. Wenn dieses Gesetz durchgeht, dann hätte Joe Biden theoretisch die Möglichkeit, Tiktok im gesamten Staatsgebiet der USA zu verbieten.

Frage: Zuletzt musste der Tiktok-CEO Shou Zi Chew vor dem US-Kongress aussagen, wie sein Unternehmen zu Spionagevorwürfen steht. Wie hat er sich verteidigt?

Antwort: Shou Zi Chew hat versucht, sein Unternehmen als amerikanisch darzustellen. Er sagte, die Daten der US-Bürgerinnen und -Bürger seien nur auf amerikanischem Boden in Datencentern gespeichert, die von amerikanischen Angestellten gewartet würden. Er sagte auch, dass der Mutterkonzern Bytedance kein Agent von China sei, und meinte, die Überwachung von US-Journalistinnen und -Journalisten sei keine Spionage gewesen, was bei den Politikerinnen und Politikern nicht gut ankam. Generell scheint Shou Zi Chew seiner Firma keinen Gefallen getan zu haben. Kevin McCarthy, der Sprecher des Repräsentantenhauses, sagte später, dass das Repräsentantenhaus nach den Aussagen des Tiktok-CEOs das Gesetz weiter vorantreiben werde.

Frage: Könnte Tiktok auch in Österreich komplett verboten werden?

Antwort: Dass Tiktok in Österreich komplett verboten wird, ist derzeit unwahrscheinlich. Ein Verbot für die Nutzung auf Diensthandys von Staatsbediensteten steht aber im Raum. Dieses wird gerade im Innenministerium geprüft. Laut dem EU-Digitalkommissar Thierry Breton verstößt Tiktok gegen 19 Punkte des Digital Services Act der Europäischen Union und müsste laut aktuellem Stand verboten werden. Da ist offen, wie weit Tiktok noch nachbessern muss. Auch wenn die Kritik heftig ist, scheint die Gesprächsbasis in Europa mit Tiktok deutlich besser zu sein als in den USA.

Frage: Was könnte Tiktok jetzt noch konkret ändern, um diesen möglichen Verboten zu entkommen?

Antwort: In den USA prüfte der Ausschuss für ausländische Investitionen, welche Sicherheitsrisiken von Tiktok ausgehen. Die Behörde hat bereits vorgeschlagen, einen Teil von Tiktok abzuspalten, sprich: zu verkaufen. Im Raum steht, dass Tiktok die Übernahme von Musical.ly durch Bytedance im Jahr 2017 rückgängig macht. Dagegen wehrt sich Tiktok nach Kräften, weil es im Wesentlichen einer Aufspaltung des Unternehmens gleichkäme.

Frage: Welche Bedeutung hat Tiktok für die Nutzerinnen und Nutzer?

Antwort: Aktivistinnen und Aktivisten, Content-Creators und zuletzt auch die prominente US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez sprechen sich gegen ein Verbot der App aus. Sie alle begründen das damit, das Tiktok ein Teil des Lebens vieler junger Menschen ist und eine wichtige Rolle in der Zivilgesellschaft spielt. So wurden etwa die Proteste im Iran über Tiktok organisiert, und auch die Black-Lives-Matter-Bewegung setzte auf die Videoplattform. Ocasio-Cortez forderte etwa für die USA ähnliche Gesetze zum Datenschutz, wie sie etwa in der EU mit der Datenschutzgrundverordnung bereits gelten. Ein Verbot der App gehe am eigentlichen Problem vorbei. (Peter Zellinger, 29.3.2023)