Mit einem Evakuierungszug bringen Ärzte ohne Grenzen Menschen aus den gefährlichsten Regionen. 1.000 Fahrten wurden bislang absolviert.

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Christopher Stokes leitet die Einsätze von Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine.

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Die befreiten Dörfer und Städte der Ostukraine ähneln einander: Sie alle wurden zerstört. Zwar gibt es in manchen Siedlungen noch vereinzelte Häuser, die in Ordnung sind, doch auch zahlreiche Dörfer, in denen jede einzelne Behausung Schäden aufweist. "Und selbst dort leben noch Menschen", erzählt Christopher Stokes am Telefon dem STANDARD. Er ist der Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen (MSF) in der Ukraine und mit seinen Teams oft unmittelbar nach den ukrainischen Soldaten in befreiten Orten. Vor allem ältere Menschen seien zurückgeblieben und würden ihre zerbombten Dächer mit Plastikfolien irgendwie abdecken.

In manchen Dörfern ist die Zerstörung so heftig, dass die medizinischen Helfer keinen Unterschlupf für eine behelfsmäßige Klinik finden. Umgebaute Baucontainer müssen dann angekarrt werden. Selbst vor Schulen und medizinischen Einrichtungen machen die russischen Bomben nicht halt: "Ich kann natürlich nichts über die Intention der Schützen sagen", so Stokes: "Ich sitze ja nicht am Knopf. Aber Spitäler werden weder geschützt noch verschont." Krankenhäuser seien kein sicherer Ort.

Auch wenn sich die Absicht hinter den Bomben auf medizinische Einrichtungen nicht nachweisen lässt, haben MSF-Teams an zwei Orten miterlebt, wie weitgehend verbotene Streumunition in der Nähe von Krankenhäusern abgeworfen wurde. In drei Spitälern entdeckten die Helferinnen und Helfer zudem scharfe Landminen. "In der Region Cherson habe ich selbst eine gesehen. Nur zwei Meter neben dem Spitalseingang", erzählt Stokes.

Unterschiedliche Befehle

Von einem Muster will der Einsatzleiter aber nicht sprechen. "Es ist sehr schwer zu beurteilen: Ich bin kein Experte, aber es scheint so, als würden die russischen Einheiten unterschiedliche Befehle erhalten und verschieden agieren." Oft werde versucht, die Wasserversorgung zu zerstören, gibt Stokes Beobachtungen wieder, die ihm in den befreiten Gebieten erzählt wurden.

Mit den mobilen Kliniken bringt MSF medizinische Grundversorgung in die befreiten Gebiete – in enger Abstimmung mit Ärztinnen und Ärzten, die auch während der Besetzung geblieben sind. Stokes erzählt etwa von einer Allgemeinmedizinerin in der Region Cherson, die Wunden operieren und Kaiserschnitte durchführen musste: "Am Telefon ließ sie sich von Kolleginnen in anderen Landesteilen anleiten", erzählt Stokes.

Mentale Gesundheit

Die MSF-Teams bestehen aus einer Ärztin, einem Gynäkologen, einer Krankenpflegerin und einem Psychiater. Ob die Menschen die psychologische Hilfe annehmen? "Überraschenderweise sehr gut", sagt Stokes. In dem Zusammenhang gebe es in der Ukraine tatsächlich wenig Stigma.

"Der Psychiater hat immer am meisten zu tun, wenn wir in die Dörfer und Städte kommen." Vor allem Menschen, die noch nie solche Unterstützung in Anspruch genommen hätten, würden nun gut darauf reagieren.

Abseits dessen behandeln die Teams der Hilfsorganisation vor allem bereits bestehende Krankheiten, die sich während der Besetzung verschlechtert haben – sei es durch fehlende Medikamente, schlechte Hygiene oder gestiegenen Stress.

"Prinzipiell würden wir aber gerne auf beiden Seiten arbeiten", will Stokes festgeschrieben wissen. Nur habe Russland eine entsprechende Anfrage noch immer nicht beantwortet. Und auch sonst fordert Stokes mehr internationale Hilfe in der Nähe der Front. "Vor allem die Ukrainer selbst versorgen hier die Menschen. Internationale Hilfe läuft elendslangsam an", sagt er und fügt hinzu: "Natürlich gibt es Risiken. Doch nur, wenn man regelmäßig hier ist, kann man einen ausbalancierten Zugang zu den Bedürftigen finden." (Bianca Blei, 30.3.2023)