Im Gastblog berichtet Robert Pichler von einem interdisziplinären Forschungsprojekt, das sich mit der Bevölkerung entlang des Flusses auseinandersetzt.

Dieser Beitrag ist der zweite Teil einer Reihe zur Vjosa, dem letzten Wildfluss Europas. Der erste Teil ist hier zu finden.

Durch die Aufwertung des Vjosatals zu einem Nationalpark übernimmt der albanische Staat ein gehöriges Maß an Verantwortung. Der Staat verpflichtet sich zur Erhaltung eines Gebiets in der Größe von 12.727 Hektar, das heißt der gesamten Wasserfläche, des Flussufers, der Landfläche und der drei Flussarme der Vjosa, des Drino, der Bënçe und der Shushica.

Die Auflagen für die Realisierung eines Nationalparks sind sehr streng. Im Mittelpunkt steht die Erhaltung des endemischen Reichtums an Flora und Fauna. Dieser Schutz bezieht sich auf bestimmte Beschränkungen wie das Verbot, in diesen Gebieten zu bauen und umweltschädliche Aktivitäten durchzuführen, oder die Beschränkung von Besucherzahlen und -zeiten. Darüber hinaus wird es Einschränkungen bei der motorisierten Fahrzeugnutzung geben müssen.

Alm oberhalb von Strëmbec.
Foto: Robert Pichler
Die Karte zeigt den Lauf der Vjosa von Griechenland kommend in südwestlicher Richtung vorbei an den Orten Përmet, Këlcyra, Tepelena und Selenica bis an die Adriamündung zwischen Vlora und Fier.(PZmaps, Albania map-en, CC BY-SA 3.0)
Foto: PZmaps, Albania map-en, CC BY-SA 3.0, Zugeschnitten

Ein Nationalpark wird von der Regierung des jeweiligen Staates verwaltet, die Regierung kann aber die Agenden auch auf regionale und lokale Verwaltungsebenen übertragen. In Albanien, wo Entscheidungen in der Regel zentral getroffen werden, wird daher Tirana eine entscheidende Rolle spielen. Dabei bietet sich auch die Chance, das Land symbolisch aufzuwerten. Das Natur- und Kulturjuwel Vjosa, das "blaue Herz Europas", wie die Region in den Medien gerne genannt wird, kann zu einem Emblem des nationalen Stolzes werden. Bisher war Albanien vorwiegend für seine Schönheit und landschaftliche Vielfalt bekannt, nicht jedoch dafür, dass die Regierung und die Menschen große Anstrengungen unternommen hätten, diese auch zu schützen. Nun hat man die Möglichkeit, dieses Manko zu korrigieren. Das Vjosa-Nationalparkprojekt könnte zu einem international beachteten Vorzeigemodell werden. Der Weg dorthin ist aber steinig und weit.

Am Weg zum Wasserfall von Sopot im Nemërcka-Gebirge.
Foto: Robert Pichler
Der Wasserfall von Sopot knapp unter der Quelle im Nemërcka-Gebirge.
Foto: Robert Pichler

Die Erkundung des Vjosatals als Forschungsvorhaben

Die Aktivitäten rund um die Bewahrung der Natur- und Kulturlandschaft Vjosa bildeten den Ausgangspunkt für ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben, das von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Forschungsbereichs Balkanforschung (IHB) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit dem Institut für Kulturanthropologie und Kunststudien in Tirana konzipiert wurde. Anhand ausgewählter Fallstudien untersuchen wir die sich verändernden Mensch-Umwelt-Beziehungen entlang des Flusses. Wir fokussieren auf die Art und Weise, wie der Fluss die sozialen und kulturellen Beziehungen beeinflusste, wie sich die Flusslandschaft auf die Besiedelung und die ökonomische Nutzung auswirkte und wie sich dieses Verhältnis infolge massiver Transformationen, ausgehend von der kommunistischen Machtübernahme bis in die Gegenwart, verändert hat.

Zur Vorbereitung auf dieses Vorhaben wurden im September 2021 und im Oktober 2022 zwei Erkundungsreisen entlang der Vjosa durchgeführt, die uns erste wichtige Erkenntnisse gebracht haben, die uns aber auch verdeutlicht haben, mit welchen Herausforderungen das geplante Nationalparkprojekt zu kämpfen haben wird.

Das Dilemma der Abwanderung

So wie alle postsozialistischen Länder ist auch Albanien seit der Wende von massiver Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte und ins Ausland betroffen. Albanien weist darüber hinaus noch gewisse Spezifika auf: Kein anderes Land verzeichnete in der Zeit des Realsozialismus ein derart starkes Bevölkerungswachstum – zwischen 1945 und 1991 hat sich die Bevölkerung beinahe verdreifacht. Nirgendwo anders wurde ein derart rigides Migrationsregime innerhalb des Landes verfolgt. Diese Politik, die darauf abzielte, ein Gleichgewicht zwischen städtischer und ländlicher Entwicklung herzustellen (was letztlich scheiterte), führte dazu, dass die ländlichen Regionen und vor allem die Gebirge im Verhältnis zu den vorhandenen Ressourcen deutlich überbevölkert waren.

Wasserzuleitungen mit Schläuchen aus dem Quellbereich der Sopot, die ins Dorf Strëmbec führen.
Foto: Robert Pichler
Bewässerungsrinnen, die in kommunistischer Zeit angelegt wurden, sind nur noch selten in Betrieb.
Foto: Robert Pichler

Entvölkerung der gebirgigen Zonen

Als das kommunistische Regime 1991 kollabierte, kam es zu einer massiven Abwanderung. Hunderttausende Menschen zogen aus den gebirgigen Gebieten in die Ebenen und an die Küsten, vor allen aber nach Tirana, dessen Einwohnerzahl sich in den letzten 30 Jahren beinahe vervierfachte (von 230.000 auf über 800.000 Einwohner und Einwohnerinnen). Gleichzeitig kam es 1991 zu einer ersten massiven Auswanderungswelle Richtung Griechenland und Italien. 1997, als es infolge des Zusammenbruchs betrügerischer Unternehmen, in die große Teile der Bevölkerung ihr Kapital investiert hatten, zu einem Aufstand gegen die Regierung und zu einem Verfall der staatlichen Ordnung kam, flüchteten abermals zigtausende Menschen ins Ausland.

Auch das Vjosatal war von dieser Entwicklung massiv betroffen. Einerseits begann damals ein Prozess der "Entvölkerung" der Bergdörfer, andererseits kam es infolge der Deindustrialisierung auch zu einem Bevölkerungsschwund in den wenigen größeren Orten am oder in der Nähe des Flusses. Aus den südlichen Bergregionen gingen damals viele Menschen nach Griechenland, weiter im Nordwesten, wo sich das Tal Richtung Adria hin öffnet, wurde auch Italien zu einer wichtigen Destination für Migranten. Die Abwanderung schlägt sich in der Bevölkerungsstruktur nieder, sie reflektiert aber auch eine gesamtgesellschaftliche Dynamik, die sich auf die Beziehung der Menschen ihrer Umwelt gegenüber auswirkt.

Unterbevölkerung und der Zerfall dörflicher Infrastruktur

Die Bevölkerung des Kreises Gjirokastra, in dem das Vjosatal liegt, ist in den vergangenen fünf Jahren um 16 Prozent geschrumpft. Die Statistik weist einen deutlichen Überhang von Männern aus, die in dieser Zeit abgewandert sind. War das Geschlechterverhältnis 2017 noch beinahe ausgeglichen, so lebten 2022 vier Prozent mehr Frauen als Männer in Region (28.711 gegenüber 26.567).¹ Das Durchschnittsalter von 39,4 Jahren macht die Region zur ältesten in ganz Albanien.

Die kommunalen Gebäude im Zentrun von Badëlonjë sind mittlerweile vollkommen verfallen.
Foto: Robert Pichler

Viele Bergdörfer, die bis Mitte der 1990er-Jahre noch vollständig besiedelt waren, sind mittlerweile verlassen oder werden nur noch von einigen wenigen Familien bewohnt. In Badëlonjë etwa, einem Dorf in der Nähe der Stadt Përmet, das nur wenige hundert Meter über der Vjosa auf einer kleinen Anhöhe liegt, gab es Anfang der 1990er-Jahre 80 bewohnte Häuser, wie mir der Bürgermeister der Gemeinde, Flamur Jaqe, erzählt. Heute sind nur noch zwölf Häuser bewohnt und es leben fast nur noch alte Menschen hier, die Jungen sind alle abgewandert. Die gesamte soziale Infrastruktur des Dorfes, die Schule, der Dorfladen, die Bäckerei und das Gemeinde- und Kulturhaus sind nicht mehr intakt.

In Badëlonjë sind nur noch wenige Häuser bewohnt. Ein Denkmal im Zentrum erinnert an den Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzer.
Foto: Robert Pichler

1997 habe hier der große Exodus eingesetzt, erzählt man mir. Der Frust der Menschen auf die Regierung infolge der Firmenpleiten 1997, in die viele ihr ganzes Eigentum investiert hatten, hatte einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die damals herrschende Anarchie und die vielen mutwilligen Zerstörungen haben viele Menschen dazu bewogen, die Region zu verlassen.

Heute ist Badëlonjë, so wie viele andere Bergdörfer in der Region, drastisch unterbevölkert. Es leben nicht mehr ausreichend Menschen im Dorf, um die fragile Infrastruktur einer Gebirgsregion zu erhalten: die Wege und Pfade, die Bewässerungssysteme, die Kanäle, die Wälder und die Wiesen, all das, was im Gebirge einer sorgfältigen Pflege bedürfte. Mit der Abwanderung hat sich auch das soziale Leben eingeschränkt. Es gibt keine Feste mehr, keine Hochzeiten, kein Zusammensitzen nach der Arbeit in der Dorfkneipe, keine spielenden Kinder. Das Leben spielt sich woanders ab, wie mir ein alter Mann, der ein paar Schafe auf der Dorfweide hütet, mitteilt; es ist weitergezogen, nach Tirana, an die Küste und ins Ausland. Auch der Strom der Rückkehrer und Rückkehrerinnen ist mittlerweile versiegt, derjenigen, die vor ein paar Jahren zumindest noch für kurze Zeit vorbeischauten. So werden die Siedlungen zu Geisterdörfern.

Die massive Abwanderung hat zweifellos zu einer Entlastung der Umwelt beigetragen. Eine hohe Bevölkerungsdichte in Kombination mit nicht nachhaltigen Konsummustern führt zur übermäßigen Ausbeutung des Lebensraums und zu einem Verlust an Biodiversität. Aber auch Unterbevölkerung kann zu einem ökologischen Problem werden, wenn nicht mehr genügend Menschen da sind, um die soziale und materielle Infrastruktur zu erhalten. Darüber hinaus macht sich auch der Klimawandel stark bemerkbar, Trockenheit und Starkregen haben zugenommen, was an exponierten Hängen zu zunehmender Erosion führt.

Erodierende Böden bei Badëlonjë.
Foto: Robert Pichler

Man wird sehen, ob die Nationalparkverantwortlichen diese Probleme erkennen und welche Strategien sie dagegen entwickeln werden. Auf jeden Fall wird es ein hohes Maß an Expertise in unterschiedlichen Bereichen brauchen, um diesen Herausforderungen begegnen zu können. Wie im nächsten Teil der Serie zu lesen sein wird, kommen aber noch weitere, migrationsbedingte Probleme hinzu, die das ganze Land betreffen und nicht von heute auf morgen zu lösen sein werden. (Robert Pichler, 30.3.2023)