Auch ohne Sporteinheiten profitiert man von regelmäßigen Dehnungsreizen – gern auch mal zwischendurch im Büro.

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Tänzerinnen und Tänzer haben, so denken viele, die perfekten Körper. Mit starken Muskeln, die aber gleichzeitig gut gedehnt sind, das lässt die Silhouette besonders schön geformt aussehen. Gepaart mit aufrechter, klarer Haltung entsteht ein sehr selbstbewusster Gesamteindruck. Man muss aber nicht unbedingt den sterbenden Schwan auf der Bühne tanzen können, damit man eine aufrechte Haltung bekommt. Das gelingt auch mit täglich einigen Minuten Dehnen. Diese Minuten sind gut investiert, denn sie bringen weitere positive Nebeneffekte: Man kann tiefer in den Bauch atmen, das bessert die Sauerstoffversorgung, Rücken und Beckenboden werden entlastet. Und auch das Selbstbewusstsein soll sich durch eine gute Haltung verbessern, wie Studien zeigen.

Ob und wie man am besten dehnt, darüber wird in Fachkreisen viel diskutiert. Man kann statisch dehnen – die Position wird bis zu einer Minute lang gehalten – oder dynamisch. Dabei hält man die Position nur kurz und geht schneller in die nächste Dehnung über. Jene, die schon mit Yoga in Berührung gekommen sind, kennen beide Arten. Beim statischen Dehnen dürfte aber weniger Reiz in den Muskel kommen. Und man braucht mehr Disziplin, um dabeizubleiben. Doch auch bei allen anderen Sportarten ist Dehnen wichtig. Immer wieder wird die Frage diskutiert, ob Stretching vor dem Sport oder doch danach sinnvoller ist. Und auch jene Menschen, die ihre Freizeit lieber auf der Couch verbringen, sollten ihre Muskeln regelmäßig in die Länge ziehen.

Gegen die Schwerkraft

Was passiert im Muskel, wenn man ihn dehnt? "Durch die erste Dehnbewegung gelangt ein Reiz ins Gehirn. Von dort geht dann wiederum der Reiz in die kleinsten Einheiten des Muskels, die sogenannten Aktin- und Myosin-Filamente, die dadurch auseinander- und wieder zusammengezogen werden", erklärt die ehemalige Profi-Tänzerin und Stretching-Expertin Karin Albrecht. Je häufiger der Muskel einem Dehnreiz ausgesetzt ist, umso elastischer wird er. Der Muskel erinnert sich übrigens daran, dass er sich in die Länge ziehen soll. Deshalb findet es Albrecht wichtig, dass man immer wieder die gleichen Dehnübungen macht und das Programm nicht bei jeder Einheit komplett wechselt.

Diese Übungen sind deshalb so wichtig, weil die Schwerkraft im Laufe der Jahre dafür sorgt, dass man sich unbewusst immer weiter nach vor beugt, die Schultern sacken nach vorne, der Rücken wird runder. Im schlimmsten Fall entsteht mit dem Älterwerden sogar ein Buckel. "Darum ist es wichtig, die Muskeln am besten täglich wieder an ihre Länge zu erinnern. Sonst wird die Körperhaltung immer gebeugter, kleiner und enger", weiß Albrecht.

"Dehnen ist nicht kreativ, Dehnen ist ein Ritual. Es ist wichtig, die Übungen präzise zu erlernen und dann immer wieder die gleichen Stretchings zu machen."

Je früher man mit dem Dehnen beginnt, desto besser ist es. Denn der natürliche Muskelabbau macht sich, ohne Gegenarbeit, bereits ab dem 30. Lebensjahr bemerkbar. Ohne Training verliert man bis zu zehn Prozent Muskelmasse pro Jahr. Albrecht rät dabei von zu viel Kreativität und Abwechslung ab: "Dehnen ist nicht kreativ, Dehnen ist ein Ritual. Es ist wichtig, die Übungen präzise zu erlernen und dann immer wieder die gleichen Stretchings zu machen." Nur so wird der Reiz im Muskel intensiver und präziser gesetzt, und die Muskeln werden tatsächlich länger.

Nicht alle Stretching-Positionen sind dabei gleich erfolgversprechend. Die beliebte Vorbeuge etwa, durch die man die Zehen greifen kann, findet Albrecht eher kontraproduktiv: "Das ist genau die Bewegung, die wir vermeiden möchten. Alles, was den Rücken rund macht, bringt mehr Beweglichkeit im Rücken, und nicht in den Beinen." Diese Beweglichkeit erledigt die Schwerkraft aber ohnehin von allein. Wichtiger ist die Öffnung und die Aufrichtung.

Schmerzlicher Morgen

Und wann soll man am besten dehnen? So manche schwören auf Stretching gleich nach dem Aufstehen. Auf Youtube findet man dazu unzählige Anleitungen. Das würde Albrecht aber nur erfahrenen Stretcherinnen und Stretchern empfehlen: "Weil morgens ist der Körper am schmerzempfindlichsten. Mobilisierungsübungen sind natürlich auch morgens gut. Aber richtige Dehnreize sollte man besser nachmittags oder auch abends setzen."

Und sie betont, dass man sich, was das Dehnen anbelangt, nicht mit anderen vergleichen soll. Vor allem in der Gruppe schaut man ja gern einmal zum Nachbarn hinüber – und eifert womöglich nach, wenn dieser das Bein besser durchstrecken kann. Doch jeder Körper ist anders, weiß Albrecht: "Wie dehnbar man ist, hängt stark vom Aufbau des Bindegewebes und der Muskulatur ab. Und auch das Geschlecht spielt eine Rolle." Wegen des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen haben Frauen eine andere Zusammensetzung von Bindegewebe, Muskulatur, Fett und Wasser. Ihr Gewebe ist dadurch weicher und somit besser dehnbar als das der Männer.

Nicht dehnen bringt übrigens Nachteile auf mehreren Ebenen – abgesehen davon, dass es einen steifer werden lässt: "Wer den ganzen Tag vor dem Computer sitzt, hat schon bald weniger Raum zum Atmen", weiß Albrecht. Und es kommen andere Effekte dazu, die aber kaum messbar sind. "Viele erzählen, dass sie sich wohler fühlen, wenn sie ihren Körper gedehnt haben." Dehnen bringt viele Vorteile, trotzdem sollte es nicht der einzige Trainingsreiz sein, betont die Expertin: "Es ist kein Allheilmittel. Die Muskeln müssen auch durch gezieltes Training gestärkt werden." (Jasmin Altrock, 5.4.2023)