Der Hauptmann (Jörg Schneider) und der gepeinigte Antiheld Wozzeck (Martin Kränzle) in Simon Stones hyperrealistischer Inszenierung für die Staatsoper.

Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Vor 93 Jahren, am 30. März 1930, fand an der Wiener Staatsoper die Erstaufführung von Alban Bergs Wozzeck statt. Die Alban-Berg-Stiftung nahm dies zum Anlass, im Teesalon des Hauses das erste Exemplar der druckfrischen kritischen Edition des Werks an Staatsoperndirektor Bogdan Roščić zu überreichen. Seit der Drucklegung der Partitur hatte Alban Berg in Zusammenhang mit zahlreichen Aufführungen eine Reihe von Korrekturen vorgelegt.

Ausgehend von Daten, Unterlagen, Fotos und Aufzeichnungen ist nun dieser prachtvolle Band entstanden. Die Alban-Berg-Stiftung hat die von Berg gewünschten Besonderheiten berücksichtigt. "Für künftige Aufführungen eröffnen sich damit neue konzeptuelle und interpretatorische Ansätze", so deren Präsident Maximilian Eiselsberg.

Im Hier und Jetzt

Vor einem Jahr, am 21. März 2022, fand die Premiere des neuen Wozzeck in Simon Stones hyperrealistischer Inszenierung statt. Nun wurde Bergs Dreiakter wieder aufgenommen. Stone verlegt die Geschichte ins Hier und Jetzt, zu sehen ist eine Bühne auf der Bühne, weiß auf schwarz, die das Publikum das Geschehen wie durch ein Guckloch betrachten lässt. Es gibt unter anderem einen Würstelstand, einen Fitnessraum, das Schlafzimmer von Wozzeck und Marie. Der Schlafsaal der Kaserne ist bei Stone die U-Bahn-Station Simmering, wo Obdachlose ihr Nachtlager aufgeschlagen haben. Zwar wirkt die Szenerie nicht wie das Leben "armer Leut’", doch durch die ständige Bewegung und Rastlosigkeit der Protagonisten gelang Stone mit Christian Gerhaher als Wozzeck eine packende und zugleich beklemmende Dynamik.

Beiläufig und tollpatschig

Bei der Wiederaufnahme gab nun der Augsburger Bariton Johannes Martin Kränzle sein Rollendebüt. In die großen Fußstapfen Gerhahers vermag Kränzle nicht zu treten; er wirkt über weite Strecken verloren, und seiner Darstellung des gepeinigten Antihelden fehlt es an Fahrigkeit und Beklemmung. So bekommt sogar der Mord an Marie trotz starker Bilder etwas Beiläufiges, beinahe Tollpatschiges. Dasselbe Schicksal ereilt Sara Jakubiak. Ihre stimmlich solide Marie lässt die innere Zerrissenheit des Charakters schmerzlich vermissen. Daniel Lenz gab dem Andres zwar einen schön timbrierten, jedoch nicht besonders präsenten Tenor. Ganz fantastisch hingegen Jörg Schneider als Hauptmann, Dmitry Belosselskiy als Doktor und Sean Panikkar als Tambourmajor aus der ersten Aufführungsserie.

Kränzle und Jakubiak haben nicht nur mit der Inszenierung der Figuren zu kämpfen, sondern auch mit der geballten Kraft des Staatsopernorchesters unter Philippe Jordan. Im Graben ist es oft so laut, dass die Stimmen von Wozzeck, Maria und Andres schlichtweg untergehen. Es gibt höflichen Applaus für das Ensemble und Jubel für den Dirigenten. (Miriam Damev, 31.3.2023)