Die Selbstheilungskräfte sind wie ein innerer Arzt, der permanent auf den Körper schaut. Gesunder Lebensstil unterstützt diese Fähigkeit.

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Gesundheit war für Hans Georg Gadamer immer etwas Verborgenes. Der Mensch sei nur dann gesund, meinte der im hohen Alter von 102 Jahren verstorbene deutsche Philosoph, wenn er vergesse, dass er gesund ist, weil er sich so wohl fühle, dass er sich mit anderen Dingen und Menschen beschäftige. Damit das so bleibe, müsse er aber auch auf seinen Körper hören. "Das müssen die Menschen wieder lernen", sagte Gadamer einst, "dass alle gesundheitlichen Störungen, Wehwehchen und selbst alle Infektionen in Wahrheit Winke sind, das Angemessene, die Balance des Gleichgewichts, wiederzugewinnen". Störung und Überwindung, das mache das Wesen des Lebens aus.

In einem gesunden Körper hält der Körper selbst gut die Balance. Denn Selbstheilungskräfte sind in jedem Menschen angelegt. Sie sind ständig aktiv. Man muss sie nicht aktivieren, wie es häufig Werbung für Säftchen, Kuren oder Tabletten suggeriert. "Sie funktionieren von ganz alleine", sagt Christoph Pieh, Professor für Psychosomatische Medizin und Gesundheitsforschung an der Donau-Universität Krems. Selbstheilungskräfte sind ein fest im Körper installiertes und in der Natur etabliertes biologisches Prinzip. Sie leisten unentwegt hervorragende Arbeit, im Körper und an der Psyche.

Permanente Reparaturmechanismen

Im ganzen Körper gibt es Beispiele dafür. Osteoblasten reparieren die Knochen, es gibt Reparaturmechanismen für die Erbsubstanz DNA, das Gehirn kann Schmerzen ausblenden und körpereigene Opiate ausschütten, Verletzungen von Blutgefäßen werden durch Blutplättchen und Fibrin abgedichtet, bis das Gewebe wieder nachwächst. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Immunsystem, das Viren und Bakterien abfängt, bevor es zur Infektion kommt. Es greift auch ein, wenn normale Zellen zu Krebszellen mutieren.

Auch erneuern die Selbstheilungskräfte den Körper im Laufe des Lebens immer wieder, reparieren dabei ganz nebenbei Schäden und halten den Verschleiß gering. Täglich ersetzen eine Milliarde neuer Hautzellen die alten, das Skelett erneuert sich in zehn Jahren einmal komplett, Muskeln und Organe alle drei bis vier Jahre. Und auch das Gehirn schützt sich vor seelischen Verletzungen, indem es Traumata verarbeitet.

Allerdings könne der Mensch seine Selbstheilungskräfte durchaus sabotieren, sagt Christoph Pieh. "Stress ist hier ein gutes Beispiel, besonders wenn dieser länger anhält. Dann kann unter anderem das dadurch ausgeschüttete Hormon Cortisol die Immunabwehr schwächen." Dass die Nebenniere bei Stress vermehrt Kortisol ausstößt und den Körper akut in Alarmbereitschaft versetzt, war ein nützlicher Mechanismus in der Zeit, als der Mensch noch Jäger war. Heute aber scheint dieser Zustand chronisch zu sein durch ständige Erreichbarkeit, Reizüberflutung, die gefühlt unendlichen Möglichkeiten, zwischen denen man sich im Leben entscheiden muss.

Selbstsabotage durch Stress

Dieser latente Dauerstress schwächt das Immunsystem, Krankheitserreger und Entzündungen im Körper haben es leichter. Auch das Blut verdickt sich dadurch, das erhöht die Gefahr von Thrombosen und damit einhergehende Risiken. Mittlerweile gilt auch als gesichert, dass eine schlechte seelische Verfassung durch eine negative Lebenseinstellung, ängstliche Erwartungen, trübe Gedanken oder Trauer wie Stress wirkt und auf Dauer den Körper anfälliger für Krankheiten machen oder gar das Herz-Kreislauf-System kollabieren können. Ebenso stört ein ungesunder Lebensstil mit einseitiger Ernährung, zu wenig Bewegung, zu wenig Schlaf, dafür zu viel Alkohol, Rauchen, Übergewicht und nur wenigen sozialen Kontakten die Selbstheilungskräfte.

"In der Regel zeigt uns der Körper aber, wenn ihm etwas nicht passt oder fehlt", sagt Pieh. Laufen die Selbstheilungskräfte nicht optimal, macht sich das, wie Hans Georg Gadamer es schon wusste, durch Winke wie gesundheitliche Störungen, Wehwehchen oder Infektionen bemerkbar. Ist man etwa nach einer langen Stressphase erschöpft und hat endlich Zeit für Erholung, bekommt man beispielsweise eine Erkältung, weil auch das Immunsystem durch den Dauerstress erschöpft war. Aber auch dann schafft es der Körper in der Regel aus eigenem Antrieb wieder heraus und bekommt Fieber und Erkältung gut in den Griff, wenn man ihm Ruhe und Zeit gibt.

Es ist also sinnvoll, den Lebensstil so zu ändern, dass es möglichst erst gar nicht zu Winken kommt. "Das beginnt beim Essverhalten, also was man isst, wie viel, zu welcher Uhrzeit, entspannt oder hastig im Gehen, bei der Menge an Alkohol, die man trinkt, ob man raucht, wie viel Zeit man vor dem Computer oder Handy verbringt, bis zu körperlicher Bewegung oder auch, ob wir uns für die Regeneration unseres Körpers, die vorrangig im Schlaf passiert, entsprechend Zeit nehmen", erklärt Pieh.

Lebensstil nachjustieren

Zum Vorbeugen reicht es oft schon, den eigenen Lebensstil an einigen Punkten nachzujustieren. Man kann Stress durch Entspannungsverfahren oder Achtsamkeitsübungen, Atemübungen, progressive Muskelrelaxation, Yoga oder Meditation reduzieren. Man ernährt sich ausgewogen und ballaststoffreich mit viel pflanzenbasierten Nahrungsmitteln. Ein gesunder und ruhiger Schlaf zwischen sieben und neun Stunden mit regelmäßigen Bettgehzeiten hilft. Auch wer regelmäßig etwa 2,5 Stunden pro Woche Sport mit moderater Intensität betreibt wie Wandern, Joggen, Schwimmen oder Fahrrad fahren, trainiert nicht nur Muskeln und körperliche Fitness, sondern reduziert auch Stress und tut etwas für seine psychische Gesundheit.

Weiters tragen Lachen und Freude durch soziale Kontakte und Gemeinschaft nachweislich zur Steigerung des Wohlbefindens und zur Genesung bei. Wer täglich lacht, der sorgt dafür, dass sein Körper Glückshormone ausschüttet, die auf das positive Denken und Schmerzen einen wichtigen Einfluss haben und selbst chronische Schmerzen lindern können.

Der Arzt kann ebenso die Selbstheilungskräfte mit anschieben. Denn Hoffnung zu vermitteln ist eine wichtige ärztliche Aufgabe. "Es ist Teil der Therapie, den eigenen Patientinnen und Patienten zu zeigen, wie man seine Selbstheilungskräfte anstoßen kann", betont Christoph Pieh. Wichtig ist ein Arzt, der nicht nur etwas gegen die Symptome verschreibt, sondern um die Selbstheilungskräfte weiß und den Patienten anregt, sie wieder mehr zu unterstützen. Je genauer der Arzt oder die Ärztin die eigenen Patienten kenne, umso besser könne er oder sie bei ihnen eine positive Erwartungshaltung aufbauen. Schließlich gehe es nicht nur darum, etwas Kaputtes zu reparieren, sondern seinen Lebensstil so einzustellen, dass die eigenen Ressourcen gestärkt werden und die Gesundheit gefördert wird.

Wichtiger Placeboeffekt

Hinzu kommt der Placeboeffekt. "Er spielt bei jeder Behandlung eine wichtige Rolle, denn wenn wir davon ausgehen, dass uns eine Behandlung hilft, dann hilft uns diese auch nachweislich besser, als wenn wir nicht daran glauben", sagt Christoph Pieh. Das gilt auch für die Therapie: "Studien haben gezeigt, dass die schmerzlindernde Wirkung von Schmerzmitteln oft stärker von der Erwartung des Patienten abhängt als vom Medikament selbst." So konnte in Studien bei einer positiven Erwartung die schmerzlindernde Wirkung sogar verdoppelt werden. Allerdings: "Bei einer negativen Erwartung des Patienten ließ sich die Wirkung auch nahezu gänzlich aufheben."

Natürlich hat Selbstheilung ihre Grenzen. "Je nach meiner genetischen Veranlagung bin ich nun einmal für die eine oder andere Erkrankung vulnerabler", sagt Christoph Pieh. Hinzu kommen biologische Faktoren wie das Alter und Umwelteinflüsse, weiters haben soziale und ökonomische Faktoren Einfluss auf die Gesundheit. Allerdings muss nicht immer Heilung das Ziel sein, bei schweren Erkrankungen wie etwa Krebs kann auch die Reduktion von Symptomen durch gute Selbstheilungskräfte oder eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutsam sein. (Andreas Grote, 13.4.2023)