Wenn King Charles III. am Samstag um 11 Uhr Greenwich Mean Time die Westminster Abbey betritt, um seine Krönung zu erhalten, befindet er sich damit in einer langen Reihe von Monarchen: Die Kirche ist der Ort der Krönung der Könige und Königinnen seit fast einem Jahrtausend.

VIDEOVORSCHAU: Was für Charles' Krönung geplant ist.
DER STANDARD

Doch der Kirchenbau in seinem heutigen Erscheinungsbild geht auf weitaus ältere Vorgängerbauten zurück. Der ursprüngliche Bau wurde über die Jahrhunderte verändert, angepasst und neu errichtet.

39 Krönungen hat Westminster Abbey bereits erlebt.
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Legenden um die Gründung

Der erste Kirchenbau an dieser Stelle wurde der Legende nach 604 unter König Sæberht of Essex errichtet. Eine andere Gründungslegende siedelt die Ursprünge überhaupt in die Zeit des mythischen Königs Lucius of Britain an, der hier im zweiten Jahrhundert regiert und das Christentum eingeführt haben soll. Freilich geht es bei derlei Legenden auch um Eitelkeit. Im konkreten Fall war es den Westminstermönchen der als Benediktinerkloster gegründeten Abbey wichtig, dass ihre Petrus geweihte Kirche älter als die der Konkurrenz, der St Paul's Cathedral, sei. Deren Vorgängerbau dürfte tatsächlich auf eine Holzkirche zurückgehen, die im Jahr 604 auf Geheiß von Mellitus, dem ersten Bischof von London und späteren dritten Erzbischof von Canterbury, errichtet wurde.

In der Nacht auf Mittwoch wurde der Ablauf der Krönung geprobt. Hier verlässt gerade die Gold State Coach Westminster Abbey.
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Im Jahr 960 beorderten jedenfalls King Edgar und Londons Bischof Dunstan ein Dutzend Benediktiner aus Glastonbury nach London, um hier eine Kirche zu gründen. Seither ist der Ort als Kirchenstandort verbürgt, doch vom ursprünglichen Holzbau ist freilich nichts erhalten. Unter Edward the Confessor – dem "Bekenner" – wurden Kloster und Kirche als repräsentative Steinbauten neu errichtet. Der um das Jahr 1005 geborene Edward musste 1013 mit seinem Vater King Æthelred the Unready (Æthelred der Unfertige oder besser: der Unberatene) nach der Wikingerinvasion unter den dänisch-norwegischen Königen Sweyn Forkbeard (Sven Gabelbart) und dessen Sohn Cnut the Great (Knut der Große) in die Normandie flüchten.

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Kirchenbau statt Wallfahrt

Es folgte eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen den englischen und skandinavischen Königsfamilien, und Edward soll gelobt haben, eine Wallfahrt nach Rom zu unternehmen, wenn er den Thron zurückerhielte. Dies trat im Jahr 1042 ein: King Harthacnut, der Sohn aus der Ehe Cnuts mit Edwards Mutter Emma of Normandy, hatte sich zu Tode getrunken – und der Thron fiel Edward kampflos zu. Doch zu diesem Zeitpunkt wäre aufgrund der unsicheren Zustände eine Abwesenheit des Königs für eine lange und gefährliche Wallfahrt undenkbar gewesen, und so löste ihm der Papst das Gelübde gegen die Auflage ab, eine Kirche für den Apostel Petrus zu errichten.

Edward the Confessor auf dem Teppich von Bayeux.
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Am 28. Dezember 1065 wurde Edwards Kirche eingeweiht, doch der König war bereits zu krank, um der Feier beizuwohnen. Er starb am 5. Jänner 1066 und wurde vor dem Hochaltar beigesetzt. Das Begräbnis ist auf dem berühmten Teppich von Bayeux dargestellt, auch das Aussehen des Kirchenbaus Edwards ist darauf überliefert: Demnach hatte sie damals einen zentralen Turm.

Das Kirchenschiff endet mit einem bunten Glasfenster.
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Prominentenfriedhof

Edward der Bekenner war nicht der Letzte, der in Westminster Abbey begraben wurde. Ihm folgten bis George II. weitere 18 Herrscher des Landes und insgesamt mehr als hundert Mitglieder der königlichen Familien. Westminster Abbey ist ein Friedhof mit mehr als 3.300 Gräbern und sozusagen das nationale Valhalla der Briten. Es ist nicht nur eine Grabstätte für eine lange Reihe gekrönter Häupter, sondern auch das Who's who der britischen Prominenz. Die Physiker Isaac Newton, Stephen Hawking, Lord Kelvin, Joseph John Thomson und Ernest Rutherford fanden hier ihre letzte Ruhestätte, auch der Biologe Charles Darwin und der Afrikaforscher David Livingstone liegen hier. Für die Schriftsteller, darunter Charles Dickens und Rudyard Kipling, gibt es eine eigene Poet's Corner, dort leisten ihnen unter anderem auch der Schauspieler Laurence Olivier und der Komponist Georg Friedrich Händel Gesellschaft.

Ein Blick in den Himmel: Westminster Abbey ist ein Musterbeispiel für den gotischen Baustil.
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Die Decken weisen wertvolle Verzierungen auf.
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Ende des angelsächsischen Königtums

Edwards Nachfolger Harold Godwinson könnte bereits in Westminster Abbey gekrönt worden sein – als letzter angelsächsischer König, dem die Würdigung einer Krönung zuteilwurde. Die Thronfolge nach Edward war umstritten: Sowohl Harolds Bruder Tostig als auch der Herzog der Normandie, William, erhoben Anspruch auf die Krone. Tostig verbündete sich mit dem Norwegerkönig Harald Hardråde, der im Norden Englands eine Invasion versuchte. Harold konnte sich behaupten, in der Schlacht von Stamford Bridge am 25. September 1066 fielen sowohl Tostig als auch Harald Hardråde. Doch inzwischen war auch William über den Ärmelkanal übergesetzt.

Battle of Hastings

Auch die normannische Invasion Englands ist auf dem Teppich von Bayeux dargestellt.
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Am 14. Oktober siegte der Normanne in der Schlacht von Hastings, und Harold verlor sein Leben. Der Witan – die Ratsversammlung der Angelsachsen – wählte den jugendlichen Edgar Ætheling zum neuen König. William hielt das nicht auf, er verdiente sich seinen Beinamen "The Conqueror", marschierte nach London und ließ sich zu Weihnachten 1066 in Westminster Abbey zum König von England krönen – nur ein Jahr nach der Einweihung der Kirche. Seither wurde jeder englische und britische Monarch dort gekrönt, mit zwei Ausnahmen: Der minderjährige Edward V. wurde 1483 beseitigt, bevor er gekrönt werden konnte, Edward VIII. wiederum dankte 1936 nach nicht einmal einem Jahr ab, den Thron und den bereits fertig durchorganisierten Krönungstermin erbte sein Bruder George VI., der Großvater von Charles III.

Der Coronation Chair wird traditionell in Westminster Abbey verwahrt.
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An ihm ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen: Von der einstigen Goldverzierung ist nicht mehr viel übrig.
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Krönung Nummer 40

Die Krönung Charles' ist die vierzigste in Westminster Abbey seit jener Williams, doch das Gebäude ist nicht mehr dasselbe. Henry III. gab im Jahr 1245 die Errichtung einer Kirche im französischen hochgotischen Baustil in Auftrag, die Stück für Stück den alten Bau ersetzte. Der Neubau war ein Projekt für Jahrhunderte: Der Chor, das Querhaus und ein Teil des Langhauses waren zwar schon 1269 fertig und wurden eingeweiht, und die Überreste Edwards erhielten eine neue, diesmal endgültige letzte Ruhestätte hinter dem Hauptaltar. Henrys Tod 1272 führte zu einer Bauunterbrechung von mehr als hundert Jahren, weswegen die Fertigstellung des Rests des Langhauses bis 1506 andauerte.

Das Langhaus von Westminster Abbey, einer der jüngeren Bauteile des Gebäudes.
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Fünf Jahrhunderte Bautätigkeit

Die Haupttürme wurden gar erst im 18 Jahrhundert errichtet und 1745 finalisiert – 500 Jahre nach Baubeginn. Noch aus der Zeit von Henry III. stammt jedoch der Cosmati-Mosaikfußboden vor dem Hochaltar, auf dem die Krönung Charles' stattfinden wird. Derzeit ist der empfindliche Boden von seiner normalerweise schützenden Teppichauflage befreit, und Besucher durften ihn in Socken betreten. Die Cosmati waren eine römische Familie, die sich ab dem 12. Jahrhundert auf Marmoreinlegearbeiten spezialisiert hatte und fast ausschließlich in Italien tätig war. Für Westminster Abbey wurden sie eigens angeworben.

Der Cosmati-Mosaikfußboden vor dem Hochaltar sagt das Datum des Weltuntergangs voraus.
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Es handelt sich um eines der wenigen Werke der Cosmati-Familie außerhalb von Italien.
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Anlässlich der Krönung wurde der sonst verdeckten Boden freigelegt und kann von Besuchern in Socken betreten werden.
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Am 23. März demonstrierten Antimonarchisten am geplanten Ort der Krönung. Sie betraten den sensiblen Boden mit Stiefeln.
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Zeit ist für ein Bauwerk wie Westminster Abbey nur bedingt ein Kriterium, die Kirche wird auch in Zukunft für Krönungen der britischen Könige zur Verfügung stehen. Doch die Zukunft hat ein Ablaufdatum: Einer Inschrift auf dem Cosmati-Boden zufolge endet das Universum im Jahr 19.683 nach der Schöpfung. Da diese nach den Berechnungen des ebenfalls hier beigesetzten Bischofs James Ussher im Jahr 4004 vor Beginn unserer Zeitrechnung stattfand, bleiben immerhin noch 13.656 Jahre – reichlich Zeit für viele Generationen künftiger Monarchen. (Michael Vosatka, 4.5.2023)