Eine Aufnahme aus dem DPD-Verteilerzentrum in Kalsdorf bei Graz: Hier sollen mutmaßlich äußerst fragwürdige Arbeitsbedingungen herrschen.

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Bis zu 17 Stunden Arbeit pro Tag, bis zu 350 zugestellte Pakete pro Tag und ein Stundenlohn von circa 5,20 Euro: Am Donnerstag berichtete DER STANDARD über mutmaßlich schlimme Zustände in der Branche der Paketzusteller, konkret in einem Lager des Unternehmens DPD in Kalsdorf bei Graz. Wie kommt es zu solchen Zuständen? Welche Regeln gelten hier? Und was lässt sich dagegen tun?

Frage: Handelt es sich bei DPD in Graz um einen Einzelfall?

Antwort: Bei DPD in Graz scheinen die Umstände besonders schlimm zu sein. Aber es ist ein branchenweites Problem. Die Riesen – neben der Post und DPD etwa die niederländische GLS, die Fedex-Tochter TNT, das US-Unternehmen UPS –, sie alle stehen in extremem Wettbewerb und geben bisweilen den Druck in unterschiedlichem Umfang weiter an Subunternehmer.

Frage: Bis zu 17 Stunden Arbeit am Tag – ist das rechtlich gedeckt?

Antwort: Nein. Laut Arbeitszeitgesetz sind maximal zwölf Stunden am Tag bzw. 60 Stunden in der Woche erlaubt, sagt Bruno Sundl, Arbeitsrechtsexperte der Arbeiterkammer (AK) Steiermark. Dazu kommt eine europarechtliche Einschränkung: Innerhalb von 17 Wochen dürfen durchschnittlich 48 Stunden pro Woche nicht überschritten werden. Laut AK wurden im vergangenen Jahr jedoch 47 Millionen geleistete Über- und Mehrstunden nicht vom Arbeitgeber abgegolten – weder mit Geld noch mit Zeitausgleich. Das liege daran, dass nicht alle Überstunden gemeldet werden – aus Sorge, ansonsten Probleme mit dem Arbeitgeber zu bekommen.

Frage: In der Causa DPD wurde viel mit Sub- und Subsubunternehmern gearbeitet. Warum machen die da überhaupt mit?

Antwort: Die Letzten beißen die Hunde. Es sind vielfach Kleinstunternehmen mit vielleicht einem Auto, die die letzte Meile abdecken. Oft handelt es sich um ausländische Arbeitskräfte, die nicht wissen, welche Verträge sie unterschreiben. Und die kaum unternehmerisch kalkulieren, sagt Susanne Bauer, Expertin der AK Steiermark. Am Ende der Kette stehen also oft Subsubunternehmer mit 2.500 Euro Umsatz brutto für sechs Tage Schwerarbeit. Bleiben rund 1.500 Euro, offene Gehaltsbestandteile, vielleicht ein Schaden am Auto, auf dem der Kleine sitzenbleibt. Gesehen würden die vertraglich festgehaltenen 1.500 Euro, aber nicht die Kosten und der Aufwand.

Frage: Gelten für Subunternehmer in der Branche denn andere rechtliche Rahmenbedingungen als für das Eigenpersonal?

Antwort: Grundsätzlich nicht, an das Arbeitszeitgesetz müssen sich alle halten. Allerdings gelten Paketzusteller meist als Selbstständige, und eben hier liegt das Problem.

Frage: Sind demnach derartige Zustände bei Selbstständigen zulässig, also bei freien Dienstnehmern und Einpersonenunternehmen?

Antwort: Sollte es sich bei den Betroffenen tatsächlich um Selbstständige handeln, wäre es durchaus zulässig. Für Selbstständige in Österreich gibt es keinen Mindestlohn, keinen Kollektivvertrag, keine Arbeitnehmerschutzvorschriften und keine Regulierung der Arbeitszeit. Außerdem dürfen Selbstständige – im Gegensatz zu Angestellten – nach Leistung statt nach Stunden entlohnt werden: Im Paketsektor heißt dies konkret, dass eine Entlohnung je nach zugestelltem Paket erlaubt ist, woraus sich die geringen Stundenlöhne erklären. Fazit all dessen: Ein Selbstständiger darf rechtlich gesehen arbeiten bis zur maximalen (Selbst-)Ausbeutung.

Frage: Soll sich das ändern?

Antwort: Es wird jedenfalls genauer hingeschaut – das Problembewusstsein und die Wahrnehmung seien Jahr für Jahr gestiegen, sagt Susanne Bauer von der AK Steiermark. Die Arbeitnehmer würden sich häufiger wehren. Zudem gibt es erste konkrete Schritte: Auf Basis einer EU-Mitteilung dürfen sich freie Dienstnehmer und Einpersonenunternehmen seit Ende vergangenen Jahres gewerkschaftlich organisieren (konkret in Österreich unter dem Dach der Gewerkschaft Vidaflex). Damit öffnet sich eine Tür, die beispielsweise auch kollektivvertragliche Verhandlungen ermöglicht. Gut möglich, dass sich in kommender Zeit in diesem Bereich viel weiterentwickelt – zum Besseren.

Frage: Aber handelt es sich denn bei Paketzustellern tatsächlich um Selbstständige?

Antwort: Das ist die entscheidende Frage. Häufig ist dies wohl nicht der Fall – zumindest ist es stark umstritten. Denn die angeblichen Selbstständigen im Paketsektor unterliegen oft derart strikten Vorgaben ihrer Auftraggeber, dass ihre Selbstständigkeit nur Schein sein könnte. "Vieles spricht dafür, dass es sich eigentlich um Scheinselbstständige handelt, die in Wirklichkeit Arbeitnehmer sind", sagt Martin Gruber-Risak, Arbeitsrechtler von der Universität Wien. Konkret seien die Indizien "die Inflexibilität und hohe Kontrolldichte". Mit Kontrolldichte ist gemeint, dass die Tätigkeit der Zusteller beispielsweise mittels Geo-Tracking vom Auftraggeber permanent erfasst wird. Mit Inflexibilität, dass die Abhängigkeit von einem einzigen Auftraggeber maximal hoch ist.

Frage: Was wird jetzt in der Causa DPD passieren?

Antwort: Es liegt in solchen Fällen am Arbeitsinspektorat festzustellen, ob es sich tatsächlich um Selbstständige handelt. Falls nicht, wären die Arbeitsverträge falsch qualifiziert. Infolgedessen werden die angeblichen Selbstständigen zu Arbeitnehmern umdeklariert – manchmal erfolgt dies durchaus auch für mehrere Monate rückwirkend. Hinzugefügt zu alldem sei, dass DPD sämtliche Vorwürfe "nicht nachvollziehen" könne und "strikt zurückweist", wie es in einer Stellungnahme an den STANDARD am Donnerstag hieß: "Eine faire und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit all unseren Geschäftspartner:innen ist uns äußerst wichtig. Wir achten sehr genau auf die Einhaltung aller geltenden gesetzlichen Vorschriften und prüfen diese sowohl regelmäßig als auch engmaschig durch interne und externe Spezialisten", teilt DPD mit.

Frage: Was könnte politisch getan werden, um fragwürdige Zustände in der Paketbranche zu verhindern?

Antwort: Susanne Bauer von der AK fordert eine Generalunternehmerhaftung. Es könne nicht sein, dass sich Logistikriesen aus dem System herauswinden und Sub- und Subsubunternehmer im Regen stünden. Den Schaden für einzelne Betroffene beziffert AK-Kollege Sundl mit zigtausenden Euro, jener für den Staat durch nicht abgeführte Abgaben gehe in die Hunderttausende. Die Auftraggeberhaftung bis zur Haustür müsse nicht nur für ausstehende Entgelte gelten, sondern auch für Lohnsteuer und Sozialversicherung. (Regina Bruckner, Joseph Gepp, red, APA, 7.4.2023)