Dem Beispiel des Jesus von Nazareth zu folgen wie in dieser KI-Visualisierung – das war laut der Quelle Q die Essenz eines gelungenen Lebens.
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Wie historisch zutreffend sind die Geschichten der Bibel? Diese Frage beschäftigt auch die Wissenschaft, spätestens seit im 19. Jahrhundert die alttestamentlichen Städte Babylon und Ninive von europäischen Archäologen ausgegraben wurden und sich herausstellte, dass sie wirklich existiert hatten.

Dass das Neue Testament ein historischer Bericht sei, behauptet heute kaum jemand. Die Schreiber der Evangelien hielten sich an Überlieferungen, sie haben die historische Person des Jesus von Nazareth aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt. Das gilt auch für Markus, der sein Evangelium als Erster, vermutlich Anfang der 70er-Jahre des ersten Jahrhunderts, niederschrieb. Die Evangelien des Lukas und Matthäus, die zum Teil auf jenem von Markus basieren, sind rund zwei Jahrzehnte jünger. Für die Mehrheit der Gläubigen schmälert das die Bedeutung der Evangelien nicht, es gibt Wichtigeres als die exakte Kenntnis der historischen Ereignisse.

Der Codex Sinaiticus ist die älteste komplette Ausgabe des Neuen Testaments und stammt aus dem vierten Jahrhundert. Die Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas entstanden aber vermutlich bereits im ersten Jahrhundert.
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Spruchquelle von Zeitgenossen

Doch 1838 erregte der Leipziger Gelehrte Christian Hermann Weiße mit einer spektakulären Theorie Aufsehen. Er äußerte die Vermutung, dass für die Evangelien des Lukas und Matthäus neben dem Markusevangelium noch eine unbekannte zweite Quelle benutzten. Diese wird Spruchquelle Q genannt, stammt womöglich von Zeitgenossen des Jesus von Nazareth und ist nach wie vor Gegenstand von Forschungen.

Der Ursprung dieser Idee, die Zwei-Quellen-Theorie genannt wird, ist eine Reihe verblüffender Übereinstimmungen zwischen den Evangelien von Lukas und Matthäus. 220 Verse sind es, die einige der zentralen Botschaften des Neuen Testaments betreffen und sowohl bei Lukas als auch bei Matthäus, aber nicht bei Markus vorkommen. Die Übereinstimmung ist teilweise wortwörtlich, sodass eine Quelle in griechischer Sprache vermutet wird. War man ursprünglich noch von einer losen Sammlung von Sprüchen ausgegangen, deuten Forschungen aus den 1950er-Jahren auf einen umfassenderen, in sich zusammenhängenden Text hin.

Bewegte Entstehungsgeschichte

Eine Gruppe von Forschenden der Universität Graz um Christoph Heil vom Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Spruchquelle Q. "Das Modell besagt, dass in Nordisrael, am See Genezareth, Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu nach seinem Tod begonnen haben, Jesusüberlieferungen zu sammeln. Als zu Beginn des Jüdischen Krieges um das Jahr 68 Vespasian von Norden nach Israel eingedrungen ist und Richtung Jerusalem marschierte, sind Anhängerinnen und Anhänger von Jesus geflohen, ohne Widerstand zu leisten", sagt Heil. Sie seien nach Norden geflüchtet, "nach Syrien, wahrscheinlich Richtung Damaskus oder auch Richtung Mittelmeerküste". Dort sei die Geschichte schließlich aufgeschrieben worden.

Die Bezeichnung "Spruchquelle" geht dabei auf die Tatsache zurück, dass sie sich zum Großteil aus Sprüchen von Jesus zusammensetzt. "Es handelt sich aber nicht einfach um ein Sammelsurium von irgendwelchen Fragmenten. Wenn man diese Matthäus-Lukas-Texte, die bei Markus fehlen, liest, dann kommt man doch zu einem relativen kohärenten Text."

"Evangelium" Q

Auch der Begriff eines eigenständigen Evangeliums fällt immer wieder. "Ja, ich würde das so nennen", bestätigt Heil. "Das haben die amerikanischen und kanadischen Forscher schon lang vorgeschlagen." Im deutschen Sprachraum sei man da zurückhaltender gewesen.

Den Inhalt von Q versucht die Forschung aus den übereinstimmenden Stellen der Evangelien von Lukas und Matthäus zu rekonstruieren. "Die Quelle enthält Erzählungen von Johannes dem Täufer und der Taufe Jesu, die Versuchungen sowie grundlegende Teile der Bergpredigt, Streitgespräche Jesu, seine Worte über die Nachfolge und wie Gott Gericht hält und die Welt zu Ende geht", berichtet Heil. Ein zentrales Element ist die Friedensbotschaft der Bergpredigt, die bei Lukas der Feldrede entspricht und bei Markus fehlt.

Vom See Genezareth aus zogen die Zeitzeugen laut der Zwei-Quellen-Theorie nach Norden.
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"Die Feindesliebe und der Gewaltverzicht – dass man Gewalt unterbrechen soll, dass man keine Gegengewalt durchführen soll – das sind ganz außergewöhnliche Botschaften für die Antike wie für die Gegenwart", sagt Heil. Dieses Ideal sei in der Quelle Q enthalten. Er betont, dass die Evangelisten diese Botschaft später wieder abgeschwächt hätten. "Bei Lukas sieht man dann schon, der ist nicht ganz damit zufrieden", sagt Heil. Lukas interpretiere diese Passagen als gültig für die Zeit, als Jesus auf der Erde war. "Er schreibt dann später in der Passion, wer noch kein Schwert hat, der soll sich ein Schwert kaufen." Teil der heute bekannten Spruchquelle Q sind diese Passagen aber nicht.

Heil erinnert daran, dass alles Wissen über Q indirekt ist: "Die Quelle Q haben wir ja nicht als Manuskript vorliegen." Doch es handle sich um eine gute Hypothese zur Entstehung der drei "synoptischen" Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas. Eine Hypothese, die zudem erklärt, wie die Berichte von Zeitzeugen in die Bibel gelangten.

Unterschiedliche Evangelien

"Das ist ein Unterschied zu den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas, die wir aus der Bibel haben. Diese Evangelisten waren aller Wahrscheinlichkeit nach keine Augenzeugen", betont der Forscher. Bei der Quelle Q sei das womöglich anders. Entscheidend dafür ist die Idee, dass die Texte bereits vor der Flucht vor Vespasian aufgeschrieben und dann im griechischsprachigen Exil in einem oder mehreren Schritten "redigiert" wurden. "Die Gruppe hat dann seine Jesusüberlieferung schriftlich auf Griechisch fixiert", sagt Heil.

Für diese Annahme gibt es verschiedene Argumente, sagt Heil. Das Lokalkolorit aus Galiläa sei sehr authentisch, ebenso die Darstellung der landwirtschaftlichen Verhältnisse und weitere Details. Außerdem hebe sich die Radikalität der Jesus-Aussagen von denen aller späteren Quellen ab. Mit Geschichtsschreibung lasse sich das dennoch nicht vergleichen, Heil betont, dass es sich um keine unbeteiligten Beobachter gehandelt habe, sondern um "christgläubige" Juden.

Mehr Klarheit könnte der originale Text von Q bringen. Seine Rekonstruktion ist ebenfalls Gegenstand von Forschungen. Es gibt eine Reihe von Rekonstruktionen, auch Rückübersetzungen ins Aramäische wurden versucht, um dem Originaltext näherzukommen.

Der Einmarsch von Vespasian zwang die Jesus-Anhängerinnen und Anhänger zur Flucht. Ihre Weigerung, sich zur Wehr zu setzen, steht in direkter Verbindung zur Friedensbotschaft in der Bergpredigt.
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Spektakuläre Funde

Wenn die Quelle denn existiert hat. Für die Übereinstimmungen zwischen Lukas und Matthäus könnte es nämlich auch eine naheliegende Erklärung geben. In Großbritannien und Nordamerika sei die These verbreitet, dass Lukas das Matthäus-Evangelium gekannt haben könnte. Heil gibt zu, dass damit die Theorie von Q in sich zusammenfallen würde. Doch diese These werfe mehr Fragen auf, als sie beantworte. So sei etwa der Inhalt der matthäischen Bergpredigt bei Lukas auf mehrere Stellen verteilt, das Vaterunser an einer anderen Stelle eingeführt. Ohne Q sei das nur schwer zu erklären. Dass das Original noch irgendwo gefunden wird, hält Heil nicht für ausgeschlossen.

Immer wieder gelingen spektakuläre Funde im Zusammenhang mit der Bibel. Aktuell sorgt ein Fund von Forschenden der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Vatikan für Aufsehen. Dabei handelt es sich um ein Fragment einer über 1750 Jahre alten Übersetzung des Matthäus-Evangeliums ins Syrische – eine der frühesten, die je entdeckt wurden. Der Text fand sich auf einer Pergamentseite, die vor 1300 Jahren gelöscht und neu beschrieben wurde.

Für die Forschung sind vor allem kleine Abweichungen zu den beiden bisher bekannten syrischen Bibelübersetzungen aus dieser Zeit interessant, weil sie Rückschlüsse auf den griechischen Originaltext erlauben.

Das Wichtigste fehlt

Die Frage, ob Q noch gefunden wird, beschäftigt die Forschenden durchaus. Heil berichtet von einem verbreiteten Scherz, dass bei einem möglichen Papyrus mit dem Original von Q erst einmal überprüft werden müsse, ob er mit den wissenschaftlichen Rekonstruktionen von Q übereinstimme und man ihn andernfalls besser verbrenne.

Dass Q hierzulande nicht als eigenständiges Evangelium angesehen wird, könnte etwas mit seiner Kürze zu tun haben. "Es liegt auch daran, dass in Q die Passionsgeschichte und Ostern fehlt, das wir ja gerade feiern." Die Quelle bricht mit der Endgerichtsrede von Jesus ab. "In der deutschsprachigen Forschung gab es viele, die gesagt haben, das kann kein Evangelium sein, wenn der wichtigste Teil fehlt", sagt Heil.

Doch die Tendenz habe sich inzwischen verändert. "Die Quelle Q setzt Auferstehung und Kreuz voraus, aber für sie ist das nicht das Wichtigste." Heil bestätigt eine stärker aufs Diesseits bezogene Ausrichtung von Q. "Man soll tun, was Jesus gesagt hat. Und das führt zu einem guten Leben", sagt Heil. "Das ist sehr erfrischend, finde ich." (Reinhard Kleindl, 9.4.2023)