Der Dalai Lama tritt seltener als früher in der Öffentlichkeit auf. Hier ist er in Ladakh, Nordindien, bei einer Zeremonie zu sehen.

Foto: AFP/MOHD ARHAAN ARCHER

Das Video ist verstörend. Da sitzt der Dalai Lama, das heute 87-jährige spirituelle Oberhaupt der Tibeter und Tibeterinnen, wie gewohnt auf seinem Thron. Der buddhistische Mönch scherzt bei einer seiner vielen Audienzen mit einem jungen Burschen, so wie er es oft mit Zuhörern macht. Er zieht ihn zu sich heran, hält die Hand des Buben auf seinem von roten Roben bedeckten Schenkel und streckt ihm die Zunge entgegen. Er soll ihn küssen, deutet der alte Mönch ganz offenkundig. "Suck my tongue", sagt er dann noch. Der Dalai Lama lacht sein bekanntes Lachen und gibt ihm, nachdem es nicht zu dem Zungenkuss kam, noch den guten Rat, dass er im Leben jenen folgen solle, die Frieden und Glück erzeugen.

VIDEO: Dalai Lama entschuldigt sich auf Twitter.
DER STANDARD

Der Junge ist schüchtern und unsicher. Er hatte ursprünglich um eine Umarmung gebeten. In der Szene wirkt er dann widerwillig und irritiert.

Die abstoßende Szene, die mit der Kamera festgehalten wurde, löste medial einen Aufschrei aus. Pädophilie wird dem Dalai Lama vorgeworfen, und Missbrauch, Grenzüberschreitung. Vorgefallen ist das Ganze bereits im Februar im indischen Dharamsala, dem Sitz der Exilverwaltung Tibets. Doch erst jetzt ging das Video viral. Und so folgte erst jetzt die Entschuldigung aus dem Büro des Dalai Lama: Seine Heiligkeit würde oft mit Leuten scherzen, "in unschuldiger und spielerischer Art". Er würde den Vorfall bedauern und sich bei der Familie und den Freunden des Jungen entschuldigen.

Auch viele seiner Anhänger und Anhängerinnen posteten im Netz Bilder von anderen Begegnungen, in denen der Dalai Lama in ähnlicher Weise auf Menschen zuging. Sein Mitgefühl würde vollkommen falsch verstanden werden, heißt es von vielen. Besonders Tibeter und Tibeterinnen reagieren ihrerseits empört über die vielen negativen Medienberichte, in denen die Aktionen des Dalai Lama als missverstanden empfunden wurden.

Dass der Dalai Lama pädophil sei, ist kein zwingender Schluss aus dem Video. Doch was die verstörende Szene und die darauffolgenden Rechtfertigungen mit erschütternder Klarheit offenbaren, ist, dass im tibetischen Kulturkontext kaum Bewusstsein für sexuellen Missbrauch, sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt oder dergleichen existiert. Umso mehr zeigt der Clip wiederum, dass die Verehrung von hochrangigen Lamas ein groteskes Ausmaß hat: Denn in den Köpfen vieler muss alles, was so ein spirituelles Oberhaupt tut, zwingend gut sein. Wenn der Dalai Lama jemanden umarmt oder gar küsst, dann ist das ein Segen, so die Devise.

Beide Faktoren, also die Ignoranz gegenüber sexuellem Missbrauch und die überzogene Guru-Verehrung, sind für sich schon höchst problematisch. Im Duo erzeugen sie aber ein verheerendes Substrat.

Für Tenzin Peljor, einen deutschen Mönch, der seit vielen Jahren dem tibetischen Buddhismus folgt, ist das Video höchst "unangemessen". Er war angeekelt, als er das Video erstmals angeschaut hat. Über seinen Blog "Buddhismus kontrovers" schreibt Peljor seit Jahren regelmäßig über Missbrauchsfälle in buddhistischen Gemeinschaften. Dabei schreckt er nicht zurück, anzuecken und in die schwierigen Debatten mit Buddhisten einzusteigen.

Nach Durchsicht des ganzen Videos mit dem Titel "Little boy asking for Hug to His holiness Dalai Lama Rinpoche" pocht er auf die Notwendigkeit von interkultureller Kompetenz. Für ihn steht die Frage im Mittelpunkt: Wie geht es eigentlich dem Buben dabei, der in der medialen Berichterstattung oft nicht einmal verpixelt wurde. Peljor sieht im Leben des Dalai Lama keine Ansätze dafür, dass er pädophil sei. Gleichzeitig sei der Erklärungsansatz "Er hatte ja gute Absichten" genau jene Begründung, die auch bei Missbrauchsverhalten als Rechtfertigung verwendet werde.

Buddhismus hat zu guten Ruf

In der Tat ist sexueller Missbrauch im Buddhismus ein unterbelichtetes Problemfeld, das in den buddhistischen Ländern selbst, aber auch in westlichen Ländern, wo der Buddhismus immer noch als etwas Exotisches gilt, viel zu oft übersehen wird.

Erst durch die #MeToo-Debatte kam es in den vergangenen Jahren zu größerer Aufmerksamkeit für Übergriffe in buddhistischen Gemeinschaften. Vor allem der Fall um den im Westen populären Lehrer Sogyal Lhakar von der Organisation Rigpa hat ab 2017 eine moderate, aber stetige Welle an Veröffentlichungen über missbräuchliche Lehrer im Westen ins Rollen gebracht. Da ist der Fall um Sakyong Mipham von Shambhala oder um die französisch-belgische Sekte OKC, bei der dutzende Kinder missbraucht wurden. Gegen den Karmapa Lama, einen hochrangigen tibetischen Lehrer, wurden in Kanada Vorwürfe laut, wonach er eine Frau missbraucht und geschwängert haben soll. Diverse weitere Vorwürfe aus den USA, Frankreich, Spanien oder den Niederlanden sind bekannt, wobei viele noch nicht aufgearbeitet sind.

Oft sind die Täter Lehrer der großen buddhistischen Organisationen im Westen, oftmals sind es aber auch kleinere, kaum bekannte Gruppierungen, in denen die Übergriffe stattfinden. Dabei ist nicht nur der tibetische Buddhismus betroffen, gerade im Kontext des im Westen beliebten Zen-Buddhismus werden immer wieder Fälle bekannt, auch in Deutschland.

Die Muster dahinter sind meist ähnlich: Der sexuelle Missbrauch eines mächtigen Lehrers geht einher mit finanzieller Ausbeutung, emotionalem Missbrauch oder auch Steuerbetrug. Menschen, die sich oft in labilen Situationen befinden, unterwerfen sich dem vermeintlichen Guru. Wer sich nicht näher mit tibetischem Buddhismus auseinandergesetzt hat, findet sich oft in einer Faszination für das Exotische wieder. Wer kann wissen, ob dies oder jenes Verhalten authentisch ist, auf dem Weg zu so etwas Abstraktem wie der Erleuchtung?

Kein Bewusstsein für sexuelle Gewalt

In buddhistisch geprägten Kulturkreisen selbst funktioniert das Muster etwas anders. Der Exotenfaktor fällt dort natürlich weg. Allerdings ist die Guru-Hörigkeit gesellschaftlich oft noch restriktiver. Und während in westlichen Ländern seit den großen Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche und später durch die #MeToo-Bewegung ein breites Bewusstsein geschaffen wurde, hat diese Entwicklung im buddhistischen Kontext in Asien kaum stattgefunden.

Dabei tauchen etwa auch in Indien, Nepal oder Bhutan immer wieder Beispiele auf, die Einblicke in das Ausmaß des Problems geben. Ein tibetischer Lama hat zum Beispiel über Youtube seine Missbrauchserfahrungen in der Kindheit im Kloster bekanntgemacht. Ein Lama der Organisation FPMT wurde vor einem indischen Gericht wegen sexuellen Übergriffes angeklagt.

Eine Vorstudie von zwei Tibeterinnen aus dem Jahr 2021 an sechs tibetischen Schulen in Indien zeigt auf, dass knapp ein Viertel der rund 400 Befragten von Vorfällen sexueller Gewalt gegen Kinder in der eigenen Schule gehört habe, zehn Prozent waren Betroffene in der eigenen Familie. Die Frage, ob man selbst von sexueller Gewalt betroffen sei, bejahten 38 Prozent. Auch wenn die Studie auf einem simplen Fragebogen aufgebaut ist und wissenschaftlich weitere Forschungen notwendig sind, gibt sie doch Einblicke in die mögliche Größenordnung des Problems. Dazu, wie es in buddhistischen Klöstern in Asien aussieht, gibt es überhaupt keine Daten.

Kritik an einzelnen Lehrern

Der Dalai Lama selbst hat sich selten zu dem Thema Missbrauch geäußert. Vor allem auf Druck von westlichen Anhängerinnen beziehungsweise Medienberichten über Übergriffe in tibetisch-buddhistischen Gemeinschaften im Westen hat er konkrete Fälle kommentiert und einzelne Lehrer für ihr Verhalten kritisiert. Den Themenkomplex als Ganzes hat er aber nie auf seine Agenda gesetzt. Es gab auch Vorfälle, in denen sein Büro Betroffenen den Rat gab, in derartigen Fällen lieber zu schweigen.

So muss der Dalai Lama im letzten Abschnitt seines Lebens auf eine verheerende Bilanz zurückblicken, wenn es um die Aufarbeitung sexueller Gewalt in den eigenen Reihen geht. Bei konkreten Fällen verhielt er sich zögerlich. Und Videos wie das aktuelle zeigen: Ein Missbrauchsystem im buddhistischen Kontext wird vom Dalai Lama nicht durchbrochen, sondern mitgetragen.

So schätzt Tenzin Peljor die Lage bezüglich einer besseren Aufklärung pessimistisch ein. Die einen würden den Dalai Lama zu 100 Prozent verteidigen, die anderen zu 100 Prozent angreifen, sagt er. "Und wir können hier keine Brücken mehr bauen, endlich dieses Thema anzugehen." Das Video versperre die Türen, offen mit Tibetern über Missbrauch zu sprechen und zu einer Sensibilisierung beizutragen. (Anna Sawerthal, 12.4.2023)