Wie Parteivorsitzende unter möglichst breiter Einbeziehung der Mitglieder bestimmt werden können, das beschäftigt nicht nur die österreichischen Sozialdemokraten. Unter anderen die Genossinnen und Genossen in Großbritannien, Italien, Deutschland, Frankreich und Spanien rangen sich nach und nach zu basisdemokratischen Wahlsystemen durch. Die Gemeinsamkeiten: Erstens war der Weg dorthin meist ein langwieriger und komplizierter. Und zweitens erfolgte der Schwenk zum Mitgliederentscheid besonders in Zeiten parteiinterner Krisen.

Großbritannien: Sägen am offenen System

In der britischen Labour Party entschieden jahrzehntelang die Bosse der mächtigen Gewerkschaften, aus denen die Partei 1900 hervorgegangen war, über den Vorsitz. Mit zunehmender Repräsentation im Unterhaus hatte aber auch die Fraktion dort ein Wörtchen mitzureden.

In den langen Jahren der Opposition der 1980er- und 1990er-Jahre erhielt der Slogan "Ein Mitglied, eine Stimme" zunehmend an Bedeutung. Eine Reform 1993 endete das Blockstimmenverhalten der Gewerkschaften; vielmehr durften nun deren Mitglieder, sofern sie die Labour Party finanziell unterstützten, ebenso über den Vorsitzenden und dessen Stellvertreter bestimmen wie die eigentlichen Parteimitglieder, und zwar zu je einem Drittel. Die Stimmen der Parlamentsabgeordneten machten das dritte Drittel der gesamt abgegebenen Stimmen aus.

Durch dieses System kam 2010 Edward Miliband mit einem hauchdünnen Sieg über seinen älteren Bruder David an die Spitze der Partei. Nach dem Skandal um eine schottische Parlamentskandidatin boxte Miliband vier Jahre später eine neue Reform durch die Gremien. Seither hat tatsächlich jedes Mitglied nur je eine Stimme, erfahrene Parlamentarier zählen genauso viel wie 16-jährige Youngster. Zusätzlich dürfen sich Sympathisanten mittels einer Spende von zuletzt 25 Pfund (umgerechnet 28,46 Euro) das Wahlrecht erkaufen.

Das sehr offene Verfahren der Labour Party ebnete 2015 den Weg für Jeremy Corbyn.
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Dieses sehr offene Verfahren ebnete nach Milibands Rücktritt 2015 dem dogmatischen, in Führungsfragen völlig unerfahrenen Linksaußen-Politiker Jeremy Corbyn den Weg an die Labour-Spitze. Zu Zehntausenden waren altgediente Linksradikale sowie enthusiastische Jungwähler aus den Metropolen Großbritanniens der Partei beigetreten. Zwar schnellte die Zahl der Mitglieder in die Höhe, doch wandte sich die alte Arbeiterschicht von Labour ab. Das schlechteste Wahlergebnis seit 1935 war bei der sogenannten Brexit-Wahl im Jahr 2019 das Ergebnis.

Der 2020 nach dem offenen System ins Amt gekommene Parteichef Keir Starmer scheiterte ein Jahr später mit dem Versuch, das bis 2014 geltende System der Drittelung wieder einzuführen. Unter Fachleuten gilt als sicher, dass der 60-Jährige nach der im kommenden Jahr anstehenden Unterhauswahl einen neuen Anlauf dazu unternehmen wird.

Italien: Erste Frau an der Spitze

Die erste Mitgliederbefragung bei der Wahl seines "segretario" führte der italienische Partito Democratico (PD) im Oktober 2007 durch. Die Partei war vom damaligen Römer Bürgermeister Walter Veltroni gerade frisch gegründet worden, als Fusionsprodukt der Linksdemokraten (einer Nachfolgepartei des Partito Comunista Italiano, PCI) und der Margherita-Partei, deren Wurzeln wiederum im linken Flügel der untergegangenen Democrazia Cristiana (DC) lagen. Nicht zuletzt wegen der gegensätzlichen politischen Herkunft – der laizistische PCI und die katholische DC hatten sich jahrelang befehdet – setzte die junge Partei von Beginn weg auf eine Basiswahl: Der PD-Chef sollte durch die Wählerinnen und Wähler der Partei legitimiert und gestärkt werden.

Bei Parteigründer Veltroni funktionierte das recht gut: Er gewann die ersten "primarie", wie der PD die Basiswahl in Anlehnung an die Vorwahlen bei den US-Präsidentschaftswahlen nannte, haushoch; insgesamt 3,5 Millionen Wählerinnen und Wähler hatten sich an der Basiswahl beteiligt. Die hohe Stimmbeteiligung wurde dadurch begünstigt, dass man nicht Parteimitglied sein musste, um sich an der Abstimmung beteiligen zu können: Wahlberechtigt waren alle Italienerinnen und Italiener ab 16 Jahren und Ausländerinnen und Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung. Es musste lediglich ein Unkostenbeitrag von einem Euro bezahlt werden.

Elly Schlein ist seit Februar 2023 die erste Frau an der Spitze der italienischen Sozialdemokraten – um sie zu wählen, war keine Parteimitgliedschaft nötig.
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Seit 2007 hat der PD weitere sieben "primarie" durchgeführt, bei denen die Regeln etwas angepasst wurden. Bei der Wahl der aktuellen Parteichefin Elly Schlein am heurigen 27. Februar konnten nur noch Italienerinnen und Italiener teilnehmen, die auf nationaler Ebene wahlberechtigt sind (und damit mindestens 18 Jahre alt) und die sich vor der Stimmabgabe schriftlich zu den Werten des PD bekannt haben. Eine Parteimitgliedschaft war aber weiterhin nicht erforderlich. Die 37-jährige Schlein ist die erste Frau an der Spitze der italienischen Sozialdemokraten – und wichtigste politische Gegnerin von Giorgia Meloni, der ersten Frau an der Spitze der italienischen Regierung.

Die Basiswahlen des PD waren und sind zwar immer ein vorbildliches Mittel der politischen Partizipation, aber sie haben keineswegs alle Probleme der Partei gelöst – vor allem nicht das vordringlichste: die ewige Zerstrittenheit. Seit der ersten Basiswahl im Jahr 2007 hat der PD, zwei Übergangslösungen mitgezählt, nicht weniger als neun Parteichefs zerschlissen. Außerdem mussten die Sozialdemokraten zwei von ehemaligen Parteichefs (Pierluigi Bersani und Matteo Renzi) angezettelte Spaltungen verkraften. Auch die Wahlbeteiligung nahm kontinuierlich ab: von 3,5 Millionen Wählerinnen und Wählern bei Veltroni zu 1,1 Millionen bei Elly Schlein.

Deutschland: Unterlegene hatten Erfolg

Im Jahr 2019 wurde nach mehreren Wechseln an der SPD-Parteispitze und einer historischen Wahlschlappe auf innerparteilichen Druck eine Mitgliederbefragung angesetzt. Bestimmt werden sollte nach dem Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles eine gleichberechtigte Doppelspitze – darunter mindestens eine Frau. Sechs Duos bewarben sich in einem wochenlangen Prozess mit insgesamt 23 Regionalkonferenzen in allen deutschen Bundesländern um den Vorsitz. Anschließend konnten die 430.000 Mitglieder per Briefwahl und online mitstimmen.

Da kein Kandidatenpaar eine absolute Mehrheit erreichte, folgte eine zweite Befragung als Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten, Klara Geywitz bzw. Olaf Scholz und Saskia Esken bzw. Norbert Walter-Borjans. Die Sieger Esken und Walter-Borjans wurden schließlich auf einem Parteitag an die Parteispitze gewählt. Das Duo war von den einflussreichen Jusos unterstützt worden, während sich die gesamte Parteispitze für Scholz ausgesprochen hatte.

Nach dem Rücktritt von SPD-Chefin Andrea Nahles wurde 2019 auf innerparteilichen Druck eine Mitgliederbefragung angesetzt.
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Der große Verlierer triumphierte allerdings nur knapp ein Jahr später, als er von seinen früheren innerparteilichen Gegnern an der Parteispitze zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde. Die Parteimitglieder wurden in diese Entscheidung nicht einbezogen.

Zuvor hatte die SPD erst einmal ihren Parteivorsitzenden per Mitgliederentscheid bestimmt: 1993 setzte sich Rudolf Scharping in einer Mitgliederbefragung gegen Gerhard Schröder durch. 56 Prozent der 870.000 SPD-Mitglieder beteiligten sich an der Befragung. Auch damals erwies sich der unterlegene Kandidat letztlich als der erfolgreichere: Scharping unterlag bei der Wahl, Schröder wurde 1998 Kanzler.

Frankreich: Urwahl geriet zu Fiasko

Bei der sozialistischen Partei Frankreichs hat die Einbeziehung der Mitglieder in die Wahl von Parteichefs und Präsidentschaftskandidaten seit vielen Jahren Tradition. In einer schweren Krise nach dem Verzicht des Hoffnungsträgers Jacques Delors auf eine Kandidatur bei der Präsidentenwahl wurde 1995 erstmals eine Urwahl abgehalten. 73,1 Prozent der rund 103.000 Parteimitglieder beteiligten sich an der Abstimmung und wählten Lionel Jospin mehrheitlich zum Präsidentschaftskandidaten. Auf einem Sonderparteitag wurde das Ergebnis anschließend bestätigt.

Obwohl Jospin bei der knapp drei Monate später stattfindenden Präsidentenwahl als chancenlos galt, schaffte er es überraschend in die Stichwahl und dort ein respektables Ergebnis gegen den siegreichen Jacques Chirac.

2012 entschied sich die französische Sozialistische Partei erstmals für Vorwahlen, an denen auch Nichtparteimitglieder teilnehmen konnten. Aus den "primaires citoyennes" ging François Hollande als Sieger hervor und zog nach der Präsidentenwahl in den Élysée-Palast ein. Seit dessen Ausscheiden aus dem Amt ging es mit der Partei steil bergab. Vor der Präsidentenwahl im Vorjahr wurde die zunächst geplante Vorwahl abgesagt und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ohne große Debatten ins Rennen geschickt. Sie erhielt bei der Präsidentenwahl nur 1,75 Prozent.

Der aktuelle Vorsitzende Olivier Faure wurde traditionsgemäß per Urwahl von den Mitgliedern gewählt. Allerdings geriet die letzte Urwahl im Jänner zum Fiasko, als Faures Konkurrent Nicolas Mayer-Rossignol wegen des knappen Ergebnisses seine Niederlage erst nach tagelangen Machtkämpfen akzeptierte.

Spanien: Wahl durch Mitglieder seit Debakel

Seit 2014 wird der Generalsekretär der spanischen sozialdemokratischen Partei PSOE in einer Urwahl aller Mitglieder gewählt. Die Kandidaten benötigen zum Antritt Unterstützungsunterschriften von fünf Prozent der Parteimitglieder. Eingeführt wurde das Mitgliedervotum, als die PSOE 135 Jahre nach der Gründung in ihrer bis dahin tiefsten Krise steckte.

Parteichef Alfredo Pérez Rubalcaba warf nach dem Debakel der Partei bei der Europawahl im Mai 2014 das Handtuch. Bei der anschließenden Urwahl der knapp 200.000 Parteimitglieder setzte sich der bis kurz zuvor in Spanien noch weitgehend unbekannte Pedro Sánchez gegen die Gegenkandidaten Eduardo Madina und José Antonio Pérez Tapias durch. Auf einem Sonderparteitag zwei Wochen später wurde der neue PSOE-Chef offiziell bestätigt.

2016 trat Sánchez nach parteiinterner Kritik zurück, kehrte aber nur knapp acht Monate später, nach einer neuerlichen Urwahl der Parteimitglieder, an die Parteispitze zurück. Rund 187.000 waren diesmal zur Abstimmung aufgerufen. (Sebastian Borger, Dominik Straub, Stefanie Rachbauer, 11.4.2023)