Die in Oberösterreich entwickelte Brille könnte bald weltweit bei Operationen zum Einsatz kommen.
Foto: Michael Ring, Cortexplore

Mit Röntgenbrillen durch Wände oder Menschen hindurchzusehen ist nicht nur eine beliebte Vorstellung spielender Kinder, sondern hätte auch für Erwachsene, beispielsweise in der Medizin, so manche Vorteile. Das Linzer Start-up Cortexplore hat diesen Traum auf seine Weise verwirklicht und eine Brille entwickelt, die das Team der Universitätsklinik für Neurochirurgie am Kepler-Universitätsklinikum Linz im Rahmen einer Studie bereits in Behandlungen einsetzt.

Freilich handelt es sich dabei nicht wirklich um eine Röntgenbrille, sondern eher um ein dreidimensionales Navigationssystem, das sämtliche Strukturen im Inneren des menschlichen Kopfs darstellt. Der Neurochirurg Matthias Gmeiner hat mit dieser Brille bereits selbst operiert: "Ich sehe damit in Echtzeit und im tatsächlichen Winkel und Abstand das Gehirn im Kopf des Patienten. So kann ich die Operation auf den Millimeter planen und habe sowohl die zu entfernenden als auch die zu schützenden Strukturen im virtuellen Bild gemeinsam erfasst."

Aneurysmen operiert

In der kürzlich beendeten Studie, die den ersten Einsatz des Systems am Menschen darstellte und dessen grundsätzliche Tauglichkeit zeigen sollte, wurden Aneurysmen entfernt. Ein Aneurysma ist eine Erweiterung eines Blutgefäßes aufgrund von krankhaften Veränderungen der Gefäßwand. Platzt so ein Blutgefäß im Gehirn, kommt es zu einem Schlaganfall, der häufig tödlich endet. Frühzeitig erkannte Aneurysmen werden chirurgisch behandelt, wobei mithilfe der Datenbrille gleichzeitig umliegende sensible Bereich wie das Bewegungs- oder Sprachzentrum eingeblendet und besonders geschützt werden können.

Virtuelle Realität kann eingeblendet werden, um noch präziser operieren zu können.
Foto: Michael Ring, CortEXplore

Dazu werden vor der Operation computertomografische und magnetresonanztomografische Bilder vom Kopf des Patienten aufgenommen. Die unterschiedlichen Gewebearten wie Knochen, Blutgefäße und Gehirngewebe werden als dreidimensionales Bild in der Brille gespeichert und ermöglichen es, einen detaillierten Operationsplan zu erstellen. Diesen können die Chirurgen mithilfe der Brille schon vorab in Ruhe im Dienstzimmer durchgehen. Zu Forschungszwecken werden aus den Aufnahmen auch 3D-Druck-Modelle erstellt, um an solchen Modellen zu üben.

Infrarotkameras und digitale Modelle

Während der Operation selbst können die Bilder über die Brille je nach Bedarf separat angezeigt und übereinandergelegt werden. Da die chirurgischen Instrumente immer in der richtigen relativen Position zur Hirnanatomie eingeblendet werden, kann sich der Arzt genau orientieren und Schicht für Schicht zu den Zielkoordinaten vorarbeiten.

Stefan Schaffelhofer, CEO von Cortexplore erklärt, welche technischen Voraussetzungen dafür nötig sind: "Der OP-Saal ist über 360 Grad verteilt mit mehreren hochauflösenden Infrarotkameras ausgestattet, die gleichzeitig den Kopf des Patienten, die chirurgischen Instrumente und die Perspektive des Chirurgen erfassen. Dies wird mit dem zuvor aufgenommenen digitalen Patientenmodell verbunden und so ein auf Zehntelmillimeter genaues virtuelles Bild erstellt."

Livestream für Schulungen

Das ergibt ein kombiniertes reales und virtuelles Bild, also eine "erweiterte Realität" oder "Augmented Reality". Dieses System erfordert derzeit noch viel Rechen- und Akkuleistung für ein unterbrechungsfreies Arbeiten, aber in künftigen Entwicklungsgenerationen soll es möglich sein, auch ein Video auf einen Bildschirm im Operationssaal zu übertragen und für Schulungszwecke zu nutzen.

Während die wissenschaftliche Auswertung der aktuellen Studie noch aussteht, sind die persönlichen Erfahrungen der beteiligten Chirurgen schon einmal sehr positiv: "Die Arbeit mit der Brille ist sehr intuitiv und macht richtig Lust auf mehr. Wir sind fast ein bisschen wehmütig, dass die Studie schon vorbei ist, aber ich denke, über kurz oder lang wird diese Technologie bei unseren Operationen selbstverständlich sein", schwärmt Gmeiner.

Anwendung am Menschen

Dieses kurz oder lang soll aber eher kurz sein, zumindest wenn es nach Cortexplore-Geschäftsführer Schaffelhofer geht: "Für Forschungszwecke vertreiben wir unser System schon erfolgreich in ganz Europa und den USA, aber Linz war die erste Anwendung am Menschen. Für den breiten medizinischen Einsatz ist noch eine Reihe strenger Kriterien zu erfüllen, aber wir planen die Zulassung für 2024."

Die Forschung mit der Datenbrille geht auch in Linz weiter und wird in weiteren Schritten gemeinsam mit der Neurochirurgie des Linzer Universitätsklinikums auf noch tiefere Hirnareale ausgeweitet. So sollen beispielsweise Gewebeproben von Gehirntumoren entnommen werden oder Elektroden für eine elektrische Hirnstimulation etwa bei der Parkinsonbehandlung eingesetzt werden.

Langjährige Forschung

Von dieser Kooperation, die bereits 2019 von Andreas Gruber, Dekan für Forschung an der Medizinischen Fakultät der Johannes-Kepler-Universität Linz, initiiert wurde, profitieren weiterhin beide Seiten. Die 2018 gegründete Firma Cortexplore, die damals vom Pre-Seed-Programm der Förderbank AWS profitierte und in der Zwischenzeit eine Reihe von Auszeichnungen abräumen konnte, kann so ihre Brille kontinuierlich testen und weiterentwickeln. Für die Ärzteteams wiederum stellt die Brille eine wichtige Ergänzung ihrer Operationsmöglichkeiten dar.

Nachdem die ersten einfachen Prototypen der Brille schon 2017 entwickelt wurden, soll sie im kommenden Jahr schließlich für den medizinischen Einsatz zugelassen werden. Damit soll Augmented Reality also schon bald von Linz aus ihren Platz an Operationstischen auf der ganzen Welt finden.

Augmented Reality bei Operationen

Ebenfalls dazu beitragen könnte ein weiteres Forschungsprojekt mit Fokus auf Augmented Reality, das seit vergangenen Herbst von der Forschungseinrichtung Risc Software gemeinsam mit Cortexplore, der Medizinischen Universität Graz und der FH Joanneum vorangetrieben wird. Das mit Fördergeldern des Klimaministeriums ausgestattete FFG-Projekt "nARvibrain" fokussiert darauf, wie die Operation von Hintumoren mithilfe von Augmented Reality und künstlicher Intelligenz noch präziser gestaltet werden kann.

Neben einer besseren präoperativen Planung sollen Betroffene von noch verständlicheren Aufklärungsgesprächen profitieren. Aber auch in der Ausbildung von Studierenden könnten die neuen Möglichkeiten zum Einsatz kommen. (Markus Plank, 15.4.2023)