Ein neuer Edward Snowden oder eine neue Chelsea Manning dürfte der Mann, der von seinen Freunden OG genannt wird, nicht sein. Anders als den beiden bisher berühmtesten – oder, je nach Sichtweise, berüchtigsten – Whistleblowern der USA dürfte es dem Mann, der womöglich eines der bisher folgenschwersten Datenlecks der US-Geschichte verursacht hat, nicht um Weltverbesserung gehen.

Laut der "Washington Post" hat OG, dessen Spitzname von "Original Gangster" herrührt und auf Deutsch etwa als "Urgestein" zu verstehen ist, auf einer Militärbasis gearbeitet. Dort soll er streng geheime Unterlagen, etwa zum Krieg in der Ukraine, aber auch über US-Abhörpraktiken anderswo, erst abgeschrieben und später fotografiert haben – um sie danach auf der bei jungen Leuten beliebten Streamingplattform Discord zu posten.

Die geleakten Dokumente machen weltweit Schlagzeilen. Gegenüber den mehr als 700.000 ab 2010 von Wikileaks veröffentlichten Papieren sind sie zwar mengenmäßig gering, ihre Relevanz scheint aber durchschlagend zu sein.
Foto: AP Photo/Ahn Young-joon

Die Daten, die nun nach und nach ans Tageslicht gelangen, könnten die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Invasoren ernsthaft gefährden – ihr Echo ist aber weit über die USA hinaus vernehmbar. Mengenmäßig mag sich der neueste Coup mit 27 Seiten (vorige Woche waren es 53) im Vergleich zu den 700.000 Dokumenten, die ab 2010 auf Julian Assanges Plattform Wikileaks veröffentlicht wurden, zwar bescheiden ausnehmen. Ein paar Hundert Seiten soll OG aber insgesamt auf Discord gepostet haben.

An möglicher Sprengkraft übertrifft er viele der bisher bekannten Leaks: Die Pentagon-Dokumente zeigen, wie weit die Abhöraktivitäten der US-Geheimdienste im kriegsführenden Russland gediehen sind – der Kreml ist also gewarnt. Markus Reisner, Militäranalyst beim österreichischen Bundesheer, beschreibt die Lage deshalb schlicht als "Super-GAU" – den größten anzunehmenden Unfall für die USA. Denn: "Es ist davon auszugehen, dass diese Dokumente zu einem Großteil der Wahrheit entsprechen."

  • Wer ist das Phantom vom Pentagon?

Die Washington Post beschreibt OG als "jungen, charismatischen Waffenliebhaber, der streng geheime Dokumente mit einer Gruppe weit verstreuter Bekannter teilte, die in der Isolation der Pandemie nach Gesellschaft suchten" – und er soll sich in seinen Zwanzigern befinden. Jedenfalls einer der Informanten der Washington Post soll minderjährig sein, OG dürfte ihm zufolge so etwas wie eine Leitfigur gewesen sein, zu der die anderen wie zu einem Helden aus einem Actionfilm aufblickten. So wie seine Mitchatter soll auch OG, der als "stark, fit und bewaffnet" beschrieben wird, ein Waffennarr und betont gottesfürchtig sein. Ein Whistleblower, der aus hehren Motiven Missstände oder Vergehen der US-Regierung aufdecken wollte, sei er hingegen nicht, sagen seine Freunde.

Zwar habe OG durchaus "düstere Ansichten" über die eigene Regierung geäußert, ein Agent sei er aber nicht gewesen, glauben seine Freunde, mit denen die Washington Post gesprochen hat – weder für die Ukraine noch für Russland. Der Zeitung liegt zudem ein Video vor, in dem mutmaßlich OG auf einem Schießstand eine Waffe abfeuert und dabei rassistische und antisemitische Flüche von sich gibt. Erst Mitte März habe OG aufgehört, geheime Dokumente zu posten, berichten seine Freunde, die angeben, Namen und Wohnort von OG zu kennen, dies aber nicht preisgeben zu wollen. Die Chat-Community sei für die Jugendlichen schließlich wie eine "Familie" gewesen – und der kaum ältere OG eine Art Vaterfigur.

Die "New York Times" berichtete am Donnerstagabend, es handle sich um einen Angehörigen der Nationalgarde. Details der Inneneinrichtung aus dem Elternhaus des 21-Jährigen, die auf Familienfotos in sozialen Medien veröffentlicht worden seien, stimmten mit Details am Rand einiger Fotos der veröffentlichten Geheimdokumente überein. Offizielle Angaben zum Ermittlungsstand und zum mutmaßlichen Täter gab es zunächst nicht. US-Präsident Joe Biden sagte aber, die Ermittler kämen der Sache näher. Laut der Nachrichtenagentur Reuters, die sich auf Insider beruft, soll der Verdächtige am Donnerstag in Massachusetts festgenommen werden. Das FBI wollte sich dazu nicht äußern.

Doch wie konnte sich ein junger Mitarbeiter einer US-Militärbasis überhaupt Zugang zu geheimen Dokumenten verschaffen, in denen es um die Sicherheit der Welt geht – um damit dann vor seinen Videospielfreunden zu prahlen? "Es geht immer um Menschen, selbst wenn in sehr engem Kreise Dokumente erstellt und besprochen werden, ist doch eine Vielzahl von Mitarbeitern damit beschäftigt. Wenn sich einer dann dazu entscheidet, etwas mit diesen Dokumenten anzustellen, ist das schwer zu verhindern", sagt Bundesheer-Analyst Reisner. "Fest steht, dass die USA tief in russische Zirkel eingedrungen sind, sonst gäbe es diese Daten gar nicht."

  • Machtkampf im Kreml

Etwa wenn in den Papieren von einem angeblichen Machtkampf im Kreml wegen der bisher ausgebliebenen Kriegserfolge in der Ukraine die Rede ist. Gerüchte darüber gibt es schon seit Monaten. Die neuesten von OG geleakten Geheimdokumente deuten aber darauf hin, dass dieser Machtkampf weit erbitterter geführt werden könnte als bisher angenommen. So berichtete die New York Times, der russische Inlandsgeheimdienst FSB beschuldige das Militär, die Zahl der russischen Toten in der Ukraine kleinzureden.

Russlands Präsident Wladimir Putin (li.) und sein Generalstabschef Waleri Gerassimow.
Foto: Mikhail Kireyev / Sputnik / AFP

Dass Russlands Präsident Wladimir Putin nur unzureichende Informationen erhalte, weil seine Untergebenen Angst hätten, ist ein weiteres Gerücht, das im Westen schon seit langem kursiert. Die Armee schrecke deshalb auch davor zurück, schlechte Nachrichten in der Befehlskette nach oben zu übermitteln, heißt es nun in den Pentagon-Leaks dazu.

  • Streit um Kriegsführung:

Und auch dass es zwischen dem Chef der Söldnerbande Wagner, Jewgeni Prigoschin, und Verteidigungsminister Sergej Schoigu Streit gibt, ist schon seit längerem bekannt. Glaubt man den Leaks, soll Putin persönlich versucht haben, den Streit zu schlichten, zuletzt bei einem Treffen am 22. Februar.

Die Pentagon-Dokumente befeuern aber noch ein weiteres Gerücht, das sich ebenso hartnäckig hält wie jenes vom Machtkampf: Putin sei krebskrank und erhalte Chemotherapie. Just an dem Tag, an dem der Präsident sich einer Behandlung zu unterziehen hatte, dem 5. März, sei ein Komplott geplant gewesen, will das Pentagon laut dem geleakten Papier erfahren haben: Generalstabschef Waleri Gerassimow habe geplant, in Abwesenheit Putins die Offensive in der Ostukraine zu beenden. Für Militäranalyst Markus Reisner hätte dies wenig mehr als eine Kurskorrektur bedeutet: Zwar habe Gerassimow offenbar geplant, Putin zu "sabotieren", Russlands Angriffskrieg beendet hätte er aber nicht – eher im Gegenteil: "Man hätte wohl weiter auf Abnützung der Ukrainer gesetzt."

  • Lagebild verraten:

Doch seien es weniger die geleakten Informationen über die ukrainische Armee selbst, etwa über Mängel an Ausrüstung oder Munition, die Russland nun in die Hände spielten, sagt Reisner. "Das Entscheidende ist, dass die Russen nun erkannt haben, wie das Lagebild der US-Amerikaner ist, und sich darauf einstellen können. Sobald die USA nicht mehr genau wissen, was Moskau macht, kann das für die Ukraine fatal werden."

Das Pentagon in der Nähe von Washington sieht sich einem neuen, potenziell gefährlichen Leak ausgesetzt.
Foto: REUTERS/Joshua Roberts/File Photo

Freilich nur, wenn die Informationen, die das Pentagon-Phantom seinen jugendlichen Internetbekannten verraten hat, stimmen. Kiews Verteidigungsminister Olexij Resnikow sorgte am Mittwoch für zusätzliche Verwirrung: Bei den Leaks, die zu einem guten Teil auch die Ukraine betreffen, handle es sich um eine Mischung aus echten und gefälschten Informationen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte hingegen: "Ich bin bereit, das Verständnis des Autors dafür, was in Russland wirklich vorgeht, in Zweifel zu ziehen." (Florian Niederndorfer, 13.3.2023)