Gruppen einem Territorium zuzuordnen widerspricht den für einen EU-Beitritt notwendigen Änderungen der bosnischen Verfassung.

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Es gibt sie sonst nirgends auf der Welt: In Bosnien-Herzegowina werden sie laut der Verfassung "die anderen" genannt, also ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die sich aber nicht zu den drei großen ethno-nationalen Gruppen zählen. Am Mittwoch trafen sich in Sarajevo bosnische Verfassungsexpertinnen und -experten aus allen Teilen des Landes mit internationalen Experten wie dem Grazer Professor Joseph Marko und Jens Wölk von der Universität Trento, um über die komplexe bosnische Verfassung zu sprechen.

Seit ein paar Jahren arbeiten sie schon im Rahmen einer akademischen Plattform zusammen, daraus entstand nun ein Glossar zur bosnischen institutionellen Architektur, die am 21. November 1995 in Dayton (Ohio) weitgehend auf Prinzipien ethnischer Repräsentation in Kombination mit föderalen Regelungen aufgebaut worden war.

Handbuch für Bürgerinnen

Das Glossar umfasst 35 Begriffe – von "Exekutivgewalt" über die Erläuterung der Kategorie "die anderen" und Abhandlungen zum Föderalismus bis bin zur Klärung, was Bürgerversammlungen bringen könnten. Ziel des Glossars ist, auch Bürgerinnen und Bürgern die Verfassung näherzubringen. Wölk zufolge ging es darum, "eine gemeinsame Sprache" zu finden. Durch die Zusammenarbeit habe man die Perspektive der anderen besser verstehen können. Das Netzwerk wird von der italienischen Botschaft in Bosnien-Herzegowina unterstützt.

Damir Banović aus Sarajevo meinte bei der Konferenz am Mittwoch, dass zwei Themen wichtig seien: die Effektivität der Verfassung zu erhöhen, also etwa Blockaden zu verhindern, und eine inklusive Demokratie zu werden, also "die anderen", die bisher diskriminiert werden, gleicher zu stellen und eine Balance zwischen Kollektiv- und Individualrechten zu finden.

Vergleichende Verfassungsrechtswissenschaft

Banović betonte, dass es dabei auch wichtig sei, dass man im "guten Glauben" agiere, also nicht mit der Absicht in Gespräche eintrete, die andere Seite zu schwächen. Die Experten arbeiten mit einer vergleichenden Methode. So werden etwa Modelle wie Kanada, Belgien oder Südtirol herangezogen, um von anderen multikulturellen und multinationalen Verfassungen zu lernen. Allerdings wurde bei der Konferenz in Sarajevo betont, dass auch die bosnische Verfassung ein Fall sui generis sei.

Dražen Barbarić von der Universität Mostar verwies darauf, dass man beim Referendum 1992, also vor dem Krieg, als es um die Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina ging, am ehesten noch von einem Bürgerstaat ausging, wenn man etwa die Formulierung der Referendumsfrage anschaue. Damals wurden die Bosnierinnen und Bosnier so angesprochen: "Sind Sie für ein souveränes und unabhängiges Bosnien und Herzegowina, einen Staat gleichberechtigter Bürger, der Menschen in Bosnien und Herzegowina – Muslime, Serben, Kroaten und Angehörige anderer darin lebender Völker?"

Kein rein liberaler Bürgerstaat

Später habe sich auch durch den Krieg aber herausgestellt, dass ein rein liberaler Bürgerstaat zu wenig Schutz biete, denn Angehörige der in einer Region jeweils dominanten Gruppe würden ansonsten auf der Verwaltungsebene die Positionen kapern und die anderen in einer hegemonialen Art ausschließen, auch die Angehörigen von den großen Volksgruppen. Barbarić verwendet für dieses Phänomen den Begriff der "Mehrheitsdiktatur".

Das Hauptproblem sei aber laut Barbarić, dass die Daytoner Verfassung ein Skelett ohne "normative Software" sei, um das System funktionstüchtig zu machen. Barbarić schlägt vor, ähnlich wie in Kanada eine "Politik der Anerkennung" zu betreiben, in der verschiedene Segmente der Gesellschaft gleich behandelt würden. Er betont dabei die "unantastbaren Unterschiede" der Gruppen in Bosnien-Herzegowina. Barbarić beruft sich in diesem Zusammenhang auf den Philosophen Charles Taylor. Taylor ging davon aus, dass Menschen nicht trotz ihrer Unterschiede gleich, sondern wegen ihrer Unterschiede verschieden behandelt werden sollten.

Universelle Menschenrechte

Liberale Denker sehen in diesem Multikulturalismus, der auf Kollektivrechte starken Wert legt, allerdings eine Gefahr für die Grundprinzipien einer freiheitlichen und menschenrechtlich orientierten Gesellschaft, denn es gebe in der Folge keine gemeinsame starke Basis, etwa die universellen Menschenrechte.

Der Grazer Verfassungsrechtler Joseph Marko, der auch als Verfassungsrichter in Bosnien-Herzegowina tätig war, betonte auch, dass Identität nicht nur nach ethnischen Gesichtspunkten gebildet werde, sondern in einer globalen Welt oft viel multipler sei und eben nicht exklusiv. Wenn es nur darum ginge, die eigene Identität zu verteidigen, lande man möglicherweise wieder bei wechselseitigen Blockaden. "Was wir brauchen, ist ein neuer Einstein, der beweist, dass man nicht nur Atome, sondern auch Identitäten spalten kann", so Marko.

150 Jahre Nationsbildung

Er erwähnte auch die Nationsbildung von Österreich, die 150 Jahre brauchte, und verwies darauf, dass 1976 nur 57 Prozent der Österreicher an eine österreichische Nation geglaubt hatten. "Nationsbildung ist ein Prozess", so Marko. Das Problem sei, dass man im europäischen Denken oft bei Dichotomien lande. Wichtig sei deshalb, dass man Diversität nicht als Gegenteil von Gleichheit wahrnehme, sondern dass man Gleichheit vor dem Gesetz erreiche, ohne die kulturelle Vielschichtigkeit abzuschaffen.

Kritik äußerte er aber auch an der angelsächsischen Art der "Problemlösung" für die südosteuropäischen Staaten. "Da geht es oft nicht um echte Kompromisse, sondern um scheußliche Kompromisse, die dann mit Pragmatismus gerechtfertigt werden. Aber dieses Durchwurschteln funktioniert in der Realität nicht." Der Dialog der Verfassungsexpertinnen und -experten in Bosnien-Herzegowina ist angesichts des vorherrschenden Nationalismus in der politischen Szene ein äußerst konstruktives Zeichen und ein Hoffnungsschimmer für die Bosnierinnen und Bosnier.

Trennung statt Integration

Jene Bürgerinnen und Bürger von Bosnien und Herzegowina, die aus Familien kommen, in denen es Katholiken, Muslime und orthodoxe Christen oder zwei von diesen Religionen gibt, kommen besonders unter Druck, denn ihnen wird zuweilen von Vertretern der in ihrer Region vorherrschenden Mehrheitsreligion so etwas wie Verrat unterstellt. Das geht so weit, dass sie die Ablehnung auch im Berufsalltag zu spüren bekommen, manche haben es schwer, überhaupt einen Job zu finden. Denn im Nachkriegsbosnien, das durch den Dayton-Vertrag geprägt ist, wird nicht Vielfalt und Integration gefördert, sondern die Trennung der Gruppen entlang sogenannter ethnischer Kategorien.

Denn den Nationalisten ist nicht so sehr die andere Gruppe ein Dorn im Auge, als die Vermischung der Gruppen. In Bosnien-Herzegowina, wo die kulturelle Zugehörigkeit zu einer Religion ethnisiert wird und wo viele orthodoxe Christen sich deshalb als Serben bezeichnen, Katholiken als Kroaten und Muslime als Bosniaken, haben Menschen, die sich bloß als Bosnierinnen und Bosnier bezeichnen, gar keine verfassungsrechtliche Möglichkeit, gewisse Positionen zu bekleiden. Auch wenn man aus einer sogenannten gemischten Familie kommt und sich nicht zu einer der drei Volksgruppen "bekennen" will, wird man diskriminiert.

Versäulung der Gesellschaft

Diese Versäulung der Gesellschaft in drei dominante Gruppen ist eine Folge des Krieges, aber auch eine Folge des Daytoner Friedens. Denn sie wurde im Rahmenabkommen von 1996, das von amerikanischen Juristen geschrieben wurde, verankert. Mit der Versäulung geht der Wunsch der Nationalisten einher, die Gruppen einem Territorium zuzuordnen und das Land schließlich zu teilen. Diese Territorialisierung wird auch weiterhin von Vertretern der internationalen Gemeinschaft unterstützt, obwohl sie den für einen EU-Beitritt notwendigen Änderungen der Verfassung widerspricht. (Adelheid Wölfl, 13.4.2023)