Um seinen steigenden Energiebedarf zu decken, setzt Indien auf Wind- und Sonnenkraft – doch die Ausbauziele wurden bisher verfehlt.

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Ganz genau weiß natürlich niemand, wie viele Menschen es gibt – weder auf der Welt noch in einzelnen Ländern wie Indien oder China. Folgt man aber den Berechnungen des UN-Bevölkerungsbüros, ist es rein statistisch am Freitag, dem 14. April so weit: An diesem Tag wird in Indien das Baby geboren, das China als bevölkerungsreichstes Land vom Thron stoßen wird. Ein Titel, den China immerhin mindestens seit dem 18. Jahrhundert hält.

Größter Emittent von Treibhausgasen ist China hingegen erst seit Mitte der 2000er-Jahre. Spätestens seitdem ist das Land einer der wichtigsten Player im Klimaschutz. Ohne China lassen sich die Klimaziele nicht erreichen. Auch Indiens Einfluss auf das Weltklima wird enorm sein. Ein zweites China wird Indien dennoch nicht werden.

Kein Vergleich zu China

"Indiens Emissionsanstieg wird wahrscheinlich nicht so dramatisch ausfallen wie der Chinas", ist Aniruddh Mohan überzeugt. Er ist Wissenschafter am Andlinger Center for Energy and the Environment an der Princeton University. Die Welt ist eine ganz andere als vor 30 oder 40 Jahren, als China zum wirtschaftlichen Aufstieg ansetzte.

Zum einen, sagt Mohan, gebe es heute klimafreundliche Technologien wie Solar- oder Windkraft und Elektrofahrzeuge, die eine praktikable und günstige Alternative zu fossilen Brennstoffen seien.

Indien will künftig mehr Kohle abbauen.
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Auflagen sorgen für weniger Schmutz

Zum anderen sind die weltweiten Auflagen zum Klima- und Umweltschutz heute strenger als in den 1980er- und 1990er-Jahren. Mohan führt etwa den Kohlenstoffzoll der EU an: Damit sollen in die EU importierte Waren, die klimaschädlich produziert werden, höher besteuert werden. Das könnte sich auch auf die Produktionsweise in Indien ausweiten.

Indien ist im Vergleich zu China weniger industrialisiert. In Indien ist deshalb die sogenannte Kohlenstoffintenstät, also die Menge an Treibhausgasen pro Dollar Bruttoinlandsprodukt, nur halb so hoch wie in China. Bis 2030 will Indien diesen Wert im Vergleich zu 2005 noch einmal um 45 Prozent senken. Gelingt das, wird es auch bei starkem Wirtschaftswachstum nicht den chinesischen Emissionspfad wiederholen.

Im Gegensatz zu der Zeit, in der China wirtschaftlich groß geworden ist, gibt es heute zumindest ein Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel. Fast alle Staaten haben das Problem erkannt oder spüren, wie im Falle Indiens, die Auswirkungen des Klimawandels bereits.

Klimaneutral erst in 47 Jahren

Die Realität sieht hingegen oft anders aus. Indien will erst bis zum Jahr 2070 klimaneutral werden. Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssen die globalen Emissionen aber bereits im Jahr 2050 auf null sinken – das heißt, dass andere Staaten ab Mitte des Jahrhunderts Indiens Emissionen ausgleichen müssen.

Indien investiert zwar kräftig in Wind und Solar – und zwar so schnell wie kaum ein anderes Land. Bis 2030 soll sich die Leistung von erneuerbaren Energieanlagen etwa auf 500 Gigawatt vervierfachen. Doch Mohan hält diese Ziele für "extrem unrealistisch". Bereits das von Premier Narendra Modi angekündigte Ausbauziel für 2022 wurde um ein Drittel verfehlt. Zudem steigt der Energiebedarf Indiens stetig. "Das bedeutet, dass beispielsweise der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht unbedingt zu einer Verringerung der Emissionen führt, sondern lediglich den neuen Bedarf deckt", sagt Mohan.

Zinswende bremst Erneuerbaren-Ausbau

Um den wachsenden Energiehunger zu befriedigen, baut Indien deshalb auch neue Kohlekraftwerke. Denn obwohl erneuerbare Energien langfristig günstiger sind als solche aus Kohle und Gas, ist zunächst viel Geld notwendig, um die Anlagen für Grünstrom zu errichten. Weil die Zinsen weltweit steigen, wird das immer unattraktiver.

Auch auf der Bühne der internationalen Klimapolitik tritt Indien regelmäßig als Verteidiger der Kohleenergie auf. Beim Klimagipfel 2021 in Glasgow war es vor allem Indien, das in letzter Minute eine Abschlusserklärung zum weltweiten Kohleausstieg verwässerte – dort ist nun von einer "schrittweisen Reduktion" statt von einem "Ausstieg" die Rede.

Wenige Tage vor der Klimakonferenz im ägyptischen Sharm El-Sheikh 2022 kündigte der indische Finanzminister Nirmala Sitharaman zudem an, die Investitionen in Kohleproduktion zu erhöhen. Viele Abbaugebiete, die ausgewiesen wurden, befinden sich auf unberührtem, ökologisch wertvollem Land. Indien rechtfertigt das Beharren auf Kohle stets mit einer notwendigen Aufholjagd an wirtschaftlichem Wohlstand und den historisch gesehen geringen Emissionen.

Indien sieht sich als Vorreiter

Indiens nationale Klimastrategie enthält zwar Ziele, aber kaum detaillierte Informationen oder Emissionspfade, die zeigen, wie diese erreicht werden sollen. Die Organisation Climate Action Tracker, welche die Klimaziele vieler Staaten analysiert, bewertet Indiens Klimapolitik deshalb als "höchst unzureichend", die zweitschlechteste Stufe. Die meisten europäischen Länder bekommen immerhin das Prädikat "unzureichend".

"Ohne Indien können die Ziele des Pariser Klimaabkommens global nicht eingehalten werden", ist Miriam Prys-Hansen vom German Institute of Global and Area Studies überzeugt. Nimmt Indien seine klimapolitische Vorreiterrolle, in der sich das Land selbst sieht, wahr, könnte es aber auch vieles zum Positiven verändern.

Allein durch seine schiere Größe seines Binnenmarktes könne Indien neue technologische Standards, aber auch Preise für bestehende klimafreundliche Techniken wie Solarpaneele oder klimafreundliche Heizungen beeinflussen, sagt Prys-Hansen. Das könnte auch anderen Entwicklungsländern bei ihren Klimazielen helfen. (Philip Pramer, 14.4.2023)