Kämpferisch reckt Justin Pearson seine rechte Faust in die Höhe.

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Das Votum der Bezirksregierung von Shelby County kam nicht überraschend. Doch als das Gremium Justin Pearson tatsächlich mit klarer Mehrheit zu seinem eigenen kommissarischen Vertreter im Repräsentantenhaus von Tennessee bestimmte, war dies der größte Triumph in der noch kurzen politischen Karriere des 28-Jährigen – und der Wendepunkt einer beispiellosen politischen Affäre, die vor einer Woche mit dem Rausschmiss zweier schwarzer Abgeordneter aus dem Landesparlament begonnen hatte.

Kämpferisch reckte Pearson seine rechte Faust in die Höhe. "Sie haben versucht, die Demokratie zu töten, doch sie haben einen schlafenden Riesen geweckt", rief der 28-Jährige mit der markanten Retro-Brille im dunklen Anzug samt Krawatte seinen Anhängern zu. Laute Zustimmung und Jubel waren zu hören, als die großen US-Kabelsender die Szene aus der Nähe von Memphis landesweit live übertrugen.

Nachdem Pearsons Kollege Justin Jones bereits am Montag vom Stadtrat seiner Heimatstadt Nashville vorübergehend wiedereingesetzt worden war, ist das Repräsentantenhaus von Tennessee nun wieder in alter Besetzung komplett. Doch die regierenden Republikaner, die 75 der 99 Abgeordneten stellen, müssen einen gewaltigen Rohrkrepierer verarbeiten. Und zwei afroamerikanische Demokraten-Politiker, die vor Ostern niemand außerhalb ihrer lokalen Wahlkreise kannte, sind über Nacht zu nationalen Helden und Ikonen einer möglichen neuen Anti-Waffen-Bewegung der Generation Z mutiert.

Friedlicher Protest

Alles hatte begonnen, als die republikanische Parlamentsmehrheit in Tennessee am vorigen Donnerstag Jones und Pearson ihrer Mandate enthob, weil diese die Ordnung und die Ehre des Kongresses befleckt hätten. Tatsächlich hatten sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Gloria Johnson eine Plenarsitzung unterbrochen, indem sie ungefragt ans Rednerpult gingen und nach dem Schulmassaker von Nashville, bei dem sechs Menschen ums Leben kamen, lautstark schärfere Waffengesetze forderten.

Der republikanische Parlamentssprecher Cameron Sexton fand diesen friedlichen Protest "mindestens vergleichbar, wenn nicht schlimmer" als den Sturm des gewalttätigen rechten Mobs auf das Washingtoner Kapitol und drängte auf den ebenso drakonischen wie ungewöhnlichen Mandatsentzug. Freilich beschloss das Parlament mit Zweidrittelmehrheit nur den Rauswurf der Afroamerikaner Jones und Pearson. Die weiße Abgeordnete Johnson durfte bleiben.

Entrüstungssturm

Dies habe "möglicherweise etwas mit der Farbe meiner Haut zu tun", prangerte die Demokratin selbst den Rassismus an. Sexton und seine rechten Parteifreunde, die tiefkonservative ländliche Regionen in dem Bundesstaat vertreten, wollten Ruhe in ihrem Parlament. Tatsächlich ernteten sie einen nationalen Entrüstungssturm.

Innerhalb weniger Tage berichteten alle großen Medien der USA. Vizepräsidentin Kamala Harris traf sich in Nashville mit den aufmüpfigen "Tennessee Three", und Präsident Joe Biden führte mit den Abgeordneten noch vor seinem Abflug gen Irland ein Videogespräch. Dabei sitzen Jones und Pearson erst seit Anfang des Jahres im Landesparlament. Vorher haben sie studiert und sich als Aktivisten für Umweltschutz, eine bessere Krankenversicherung und ein faires Wahlrecht eingesetzt.

Doch mit rhetorischer Brillanz, ebenso furchtlosem wie stilsicherem Auftreten und brillantem Gespür für Kommunikation sind die Newcomer ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Ihr Engagement für schärfere Waffengesetzt trifft den Nerv einer Bevölkerung, die zunehmend frustriert über die fast täglichen Massenschießereien ist. Und ihr unkonventioneller, frischer Auftritt kommt vor allem bei jungen Menschen gut an.

Wahlrecht sieht Neuwahl vor

Das rasche Comeback aber hat das Wahlrecht in Tennessee ermöglicht. Es sieht vor, dass nach dem Ausschluss eines Abgeordneten die örtlichen Gremien des Wahlbezirks einen Vertreter entsenden, bis es dann einige Monate später eine Neuwahl gibt, bei der die sanktionierten Politiker wieder antreten dürfen. Jones und Pearson kehren nun also zunächst kommissarisch zurück, doch an ihrer Wiederwahl besteht kein Zweifel.

Nach seiner Bestätigung durch die Stadtregierung zog Jones, wie üblich im weißen Anzug, die langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, mit hunderten Anhängern durch die Straßen von Nashville zum Kapitol. "No Justin, no peace!", skandierte die Menge in Abwandlung des üblichen Slogans "No justice, no peace!" (Keine Gerechtigkeit, kein Friede). Kurz darauf traf er die Folk-Ikone Joan Baez und stimmte mit ihr gemeinsam den Protestsong "We Shall Overcome" für einen Social-Media-Clip an.

Pearson hat derweil einen leidenschaftlichen Gastbeitrag in der "New York Times" veröffentlicht, in dem er sich in die Tradition des legendären Bürgerrechtlers John Lewis stellt. "Die, die uns zum Schweigen bringen wollten, werden nicht das letzte Wort haben", kündigt der Abgeordnete an. Tatsächlich sind er und sein Kollege Jones derzeit täglich irgendwo im nationalen TV-Programm zu sehen. Der demokratische Senator von Connecticut, Chris Murphy, hat 400.000 Dollar zu ihrer Unterstützung gesammelt. Die Republikaner in Tennessee, analysiert der linke kalifornische Kongressabgeordnete Ro Khanna treffend, hätten versucht, eine Kerze auszublasen: "Stattdessen haben sie ein Feuer entfacht." (Karl Doemens aus Washington, 13.4.2023)