"Nichts kommt auf das Blatt, das nicht auf meiner Haut Spuren hinterlassen hat": der Schriftsteller Dinçer Güçyeter mit seiner Mutter Fatma.

Foto: Studio Özgür, Usak/Türkei

Dass sich im Literaturbetrieb vor allem Menschen bürgerlicher Herkunft tummeln, wird an den Ausnahmen deutlich. "Wohin mit dieser Geschichte", lauten deshalb die Eingangsworte zu Dinçer Güçyeters Buch Unser Deutschlandmärchen. Sie fragen nach dem Ort des Diskurses, an dem diese Sammlung von Texten unterkommen könnte. Güçyeter – 1979 im rheinischen Nettetal geboren, Theatermacher, Lyriker und Gründer des Elif-Verlags – folgt darin seinem Werdegang als Sohn einer türkischen Gastarbeiterin, lässt dabei auch Großmutter und Mutter zu Wort kommen. Seine Kunst finanziert er unter anderem durch einen Brotjob als Gabelstaplerfahrer.

Doch seit dem Autor 2022 der Peter-Huchel-Preis für den Gedichtband Mein Prinz, ich bin das Ghetto verliehen wurde, wird sein Werk auch in den Feuilletons großer Zeitungen rezensiert. Fernsehteams reisen nach Nettetal und werden von ihm bewirtet, wie man über sein Instagram-Profil dincergucyeter erfahren kann. Die Familie ist oft mit dabei. Von dem üblichen Hype um Authentizität und Autofiktion heben Güçyeters Texte sich jedoch ab. Wo andere Autorinnen, die sich mit ihrer Herkunft aus der Arbeiterklasse beschäftigen, einen Bruch ohne Möglichkeit zur Rückkehr beschreiben, bleibt bei Güçyeter die Verbindung zum Milieu seines Aufwachsens erhalten.

Rolle des Beobachters

Für Unser Deutschlandmärchen schlüpft er sogar in die Rolle des Beobachters und Übersetzers seiner meist alleinerziehenden Mutter Fatma, spricht mit ihrer Stimme und eröffnet einen lebendigen Dialog mit einer Vertreterin jener "work force", die den Wohlstand Deutschlands mitbegründete, dabei aber stets im Schatten der allgemeinen Wahrnehmung geblieben ist. Statt Anerkennung zu erhalten, waren sie die "Immerfremden". Den Vorurteilen der Autochthonen gegenüber Migranten, unter anderem der Vorwurf, sie wären Sozialschmarotzer, können sie nur Schweigen entgegensetzen, um nicht noch mehr aufzufallen. Was nicht bedeutet, dass die so Diffamierten stumpf bleiben.

Das Sensorium der Mutter ist treffend genau, wenn sie feststellt, dass Politiker nicht die Sprache der unteren Klassen sprechen: "Diese Worte kennen keine Fabrikhallen, diese Worte kennen keine müden Menschenkörper." Fatma steht beispielhaft für eine Migrantin, ein "Arbeitstier", von der Mehrheitsgesellschaft vor allem verachtet. Dabei haben diese Arbeiterinnen mit Existenzen fern ihres Herkunftslandes viel aufgegeben. "Wir haben blind danach gestrebt, den Schmerz der Entwurzelung mit Eigentum, mit Geld zu heilen, vergebens ..." Dazu kommt die ständige Angst vor lebensbedrohlichen Attacken von Rechtsradikalen, wie etwa die Brandanschläge von Mölln, von Hanau, und so fort. Ihre einzige Hoffnung ist, dass zumindest die Kinder ein besseres Leben haben können.

Theaterhafte Szenen, Gebete und Träume

Anstatt nun eine anklagende realistische Schilderung prekärer Verhältnisse zu entwerfen, setzt Güçyeter ungewöhnliche und vielfach variierte erzählerische Mittel ein, lässt Fatma mit poetischem Verstand und bildhafter Sprache, mit Worterfindungen von ihrem wechselvollen Leben erzählen, flicht Lieder ein, Gedichte, theaterhafte Szenen, Gebete und Träume, schlägt dann wieder einen märchenhaften Ton an, alles durchtränkt von Erfahrungen Fatmas, die jung, kräftig und hoffnungsvoll nach Deutschland gekommen ist und nun kaputt und abgearbeitet mit einem Mal über den Umweg ihres Sohnes Gehör findet.

Ihre Sorgen um Dinçer, dessen Träume sich weitab von den üblichen Erwartungen an einen türkischen Gastarbeitersohn bewegen, sind in diesen Texten aufgehoben. Allerdings entspricht der Sohn so überhaupt nicht dem tradierten, patriarchalen Männlichkeitsbild. Er wird in seiner Ausbildung zum Werkzeugmechaniker zwar mit der Schwanz-Welt, wie er sie nennt, konfrontiert, passt sich dieser jedoch nicht an.

An den Fotografien aus dem Familienalbum, die dem Buch beigegeben sind, kann Fatmas Verwandlung nachverfolgt werden. Da ihre Arbeitskraft vor allem in der Ausbeutung ihres Körpers bestand, lassen sich die Folgen daran ablesen. Die Körper der Fremden nutzen sich ab, müssen von Ärzten zusammengeschraubt werden. Wie Maschinen werden sie behandelt. Güçyeter bringt dafür das starke Bild eines Museums, in dem die geschundenen Arbeitskörper archiviert werden, "unsere ausgeschabten Körper kannst du in einem Gastarbeitermuseum ausstellen: die Röntgenbilder unserer Knie, Arme, der Wirbelsäulen, der Hüften".

Gegen die Leere

Nur der schreibende Sohn kann den Verschwiegenen Sichtbarkeit verschaffen: "Ich sag es immer wieder, zwischen Himmel und Erde haben sich Millionen Geschichten aufgestapelt. Du versuchst jetzt, einen Bruchteil davon aufzuschreiben, schön ... Glaub mir, auch wenn ich es spät begriffen habe, was dein Schreiben bedeutet, es füllt in mir eine Leere, bitte, schreib weiter, auch das hier, das alles musst du aufschreiben." Güçyeter erkennt früh, dass er der Mutter helfen muss, weil sein Vater als Ernährer versagt. Schon mit sieben Jahren bemüht er sich um Arbeit. Das Deutschlandmärchen erzählt von seinem Aufwachsen, vom Job in einem Bordell, von Armut, von der Machowelt in der Fabrik.

Mutter Fatma befürchtet, dass sich mit Dinçers Interesse für Sprache und Theater der nichtsnutzige Vater durchsetzen würde. Sie weiß um den minderbewerteten Status eines Gastarbeiterkindes. Niemals wird er als Gleicher, auf Augenhöhe akzeptiert werden. Besser, er nimmt die ihm zugewiesene Position eines ungebildeten Arbeiters ein, als sich in Unsicherheit zu bringen, indem er nach Höherem strebt. Hier aber stößt sie auf den Widerstand des Sohnes, der sich ihren Wünschen verweigert, so leid es ihm tut. Ein Verrat, für den er die Mutter um Verzeihung bitten will. "Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt."

Die Brutalität der Fabrikarbeiter im Umgang miteinander, die er während seiner Ausbildung erlebte, hat den späteren Dichter gestärkt, um in der Welt der Kunst zu bestehen, schreibt er. Sozialisiert als Arbeiter gibt er diese Identität im Theater- und Literaturbetrieb nicht auf. Auch dort herrschen Unterdrückung, Intrigen, Favoritismus etc. Daher ist die Sprache, in der Güçyeter seinen Werdegang verhandelt, von Ausgrenzungen gezeichnet.

Dinçer Güçyeter,"Unser Deutschland-märchen". € 26,– / 216 Seiten. Mikrotext-Verlag, 2022.

Foto: Verlag

Sprache als Wunde

Da er Deutsch erst in der Schule erlernte, stellt er seine Worte immer wieder "unter Verdacht". Die Sprache ist seine Wunde, weil er die mühevolle Arbeit, sie sich gegen viele Widerstände anzueignen, nie vergessen wird, nie vergessen will. Seine Sprache soll ungekünstelt sein, in einer Poetik der Erfahrung formuliert er: "Nichts kommt auf das Blatt, das nicht auf meiner Haut Spuren hinterlassen hat." Er versteht sich als Stimme derjenigen, die sonst keine Stimme haben. Und verschenkt sie großzügig, indem er zum Beispiel Fatma ein Wissen jenseits klassischer Bildung zuschreibt, ihr eine Sprache der Dinge erfindet: "Im Schlaf lerne ich neue Sprachen, die Eidechsen, die Steine, die Kräuter ... alles hat seine eigene Sprache. Ich rede mit allen in einer gebrochenen Sprache, sie verstehen mich, antworten auf meine Fragen."

Obwohl Güçyeter also einen ungewöhnlichen Weg beschritten hat, aus der für ihn von der Mehrheitsgesellschaft zugedachten Position heraus, bleibt die Verbindung zur Klasse seiner Herkunft bewusst erhalten. Er bewohnt ein Zwischensein, bleibt der Blaumann und ist doch gleichzeitig Dichter.

Hilfe für Geflüchtete und Erdbebenopfer

Dieses außergewöhnliche Buch nimmt die Leserinnen im doppelten Sinne mit, denn noch nie ist man dem Innenleben türkischer Migrantinnen, die schon so lange mit und unter uns leben und für uns arbeiten, so nahegekommen wie in diesen Texten. Fatmas Sohn verschenkt aber nicht nur Worte, sondern setzt sich auch für die ein, denen es noch schlechter geht, etwa durch seine Hilfsaktion für Geflüchtete aus der Ukraine und kürzlich für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien.

Der Erlös der von ihm im Elif-Verlag herausgegebenen Bücher gehe zur Gänze an eine Hilfsorganisation, verkündete er. Rund 5000 Euro kamen so in kurzer Zeit zusammen, die Portokosten für die verschickten Bücher finanzierten Nichten und Neffen von ihrem Taschengeld. (Sabine Scholl, 14.4.2023)