Am Ende des Umsturzversuchs vom 8./9. November 1923 gab es 18 Tote, Hitler wurde von seinem Leibwächter gerettet.

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Dem Reich Gottes, das durch Leiden, Tod und Auferstehung Christi den Menschen geöffnet wird, sollte das Dritte Reich, das durch Kampf, Tod und Sieg der Opfer des 9. November begründet wurde, entsprechen.‘ Der Marsch zur Feldherrnhalle wurde in eine nationalsozialistische ‚Via Dolorosa‘ umgedeutet, die Machtübergabe an Hitler wurde zur nationalsozialistischen Variante des christlichen Opferfestes." So beschreibt Wolfgang Niess die Umdeutung des sogenannten Hitlerputsches am 8. und 9. November 1923 (unter Verwendung eines Zitats von Wolfram Wessels).

Zum 100. Jahrestag des Putsches in diesem Jahr hat der deutsche Historiker und Journalist Niess ein Werk vorgelegt, das die damaligen Ereignisse minutiös beschreibt und teilweise neu interpretiert. Es war sozusagen die verpatzte Generalprobe der Machtübernahme Hitlers etwas mehr als neun Jahre später, im Jänner 1933. Die erfolgte zwar im demokratischen Rahmen, aber die "Einrahmung" Hitlers wurde auch 1923 schon versucht, damals freilich von Männern, die ganz offen die Errichtung einer Diktatur nicht nur in Bayern, sondern im ganzen Deutschen Reich planten, mit einem "Marsch auf Berlin".

Rächer der Enterbten

Das Unternehmen scheiterte am dilettantischen Vorgehen Hitlers, der vorpreschte und damit die Pläne der bayerischen Führung und ihrer Gleichgesinnten in Berlin vereitelte. Aber der "Führer", der er für seine NSDAP und die wachsende Zahl seiner Anhänger damals schon war, zog Vorteile für seinen späteren Erfolg daraus. Und dabei halfen ihm das politischen Establishment Bayerns ebenso wie angesehene bayerische Familien. Weil sich die bayerische Führung aus der Verantwortung stahl, konnte Hitler sich zum Rächer der Enterbten stilisieren.

Hitlers Popularität schnellte mit dem Scheitern des Putsches und vor allem mit dem Prozess gegen ihn, Ex-General Erich Ludendorff (deutscher Chefstratege im Ersten Weltkrieg), Ernst Röhm (SA-Führer, den Hitler später ermorden ließ) und weitere sieben Angeklagte nach oben. Die Angeklagten genossen die Sympathien des Gerichtsvorsitzenden und sogar des Staatsanwalts. Der Prozess endete mit lächerlichen Freiheitsstrafen und dem Freispruch Ludendorffs. Während der "Festungshaft" in Landsberg schrieb Hitler Mein Kampf.

Auftrieb durch Weltwirtschaftskrise

Mit der Währungsreform, welche die wahnwitzige Inflation beendete, der Konsolidierung der deutschen Wirtschaft und der Festigung der Weimarer Republik versank Hitlers Stern beinahe in der Bedeutungslosigkeit. Die Weltwirtschaftskrise 1929 spülte ihn wieder nach oben. Diesmal machte er keine Kompromisse mit dem Establishment, das ihn seinerseits hofierte.

Dabei war Hitler nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg – irgendwie war es ihm gelungen, als Österreicher in die deutsche Armee aufgenommen zu werden – ursprünglich ein Republikaner mit Sympathien für die Sozialisten gewesen. Der Sinneswandel kam nach dem "Friedensdiktat" von Saint-Germain 1919. Die "Novemberverbrecher" (Revolutionäre) von 1918 und die Weimarer Republik, die den Friedensvertrag, wenn auch unter Protest, annahm, waren nun die Hauptzielscheiben seiner Agitation.

Pistole und Bierkrug

In seiner dreieinhalbstündigen Verteidigungsrede am ersten Prozesstag, dem 26. Februar 1924, sagte Hitler: "Wenn ich wirklich Hochverrat getrieben haben sollte, so muss ich mich wundern, dass die, die damals das Gleiche mit mir trieben, nicht an meiner Seite sitzen. (...) Solange diese Herren nicht neben mir sind, lehne ich die Schuld am Hochverrat ab." Damit hatte Hitler den wunden Punkt getroffen. Im Wesentlichen meinte er den bayerischen Generalstaatskommissar Gustav von Kahr, General Otto von Lossow, den Kommandeur der VII. (bayerischen) Reichswehrdivision, und Oberst Hans von Seißer, den Chef der Landespolizei.

Kahr, ehemaliger bayerischer Ministerpräsident, war Ende September 1923 zum Generalstaatskommissar und damit zum De-facto-Diktator in Bayern ernannt worden. Am Abend des 8. November wollte er im Münchner Bürgerbräukeller eine große, zukunftsweisende Rede halten. Mehr als 2000 Menschen waren gekommen, unter ihnen alles, was in München Rang und Namen hatte. In dem Moment, als Kahr sagte, die Diktatur "bietet die einzige Möglichkeit, die Grundlage des neuen Geschlechts freier Deutscher zu schaffen", stürmte Hitler an der Spitze eines Stoßtrupps Bewaffneter in den Saal. In einer Hand trug er eine Pistole, in der anderen einen Bierkrug, den er auf den Boden schmetterte mit den Worten: "Soeben ist die nationale Revolution ausgebrochen!" Die bayerische Regierung sei abgesetzt, eine provisorische Reichsregierung werde gebildet.

"Umgedreht wie einen Handschuh"

Dann zog er sich mit Kahr, Lossow und Seißer in ein Nebenzimmer zurück. Dort erklärte er ihnen, er führe die neue Reichsregierung, Ludendorff übernehme das Kommando über die nationale Armee.

Das Triumvirat widersetzte sich anfangs den Plänen Hitlers. Der aber schaffte es, die drei umzudrehen – indem er die Stimmung im Saal umdrehte. Der Historiker Karl Alexander von Müller, der dabei war, berichtete: "Sicher gab es noch viele, die nicht bekehrt waren, aber die Stimmung der Mehrheit hatte völlig umgeschlagen. Hitler hatte sie mit einigen Sätzen umgedreht, wie man einen Handschuh umdreht. Es hatte fast etwas von einem Hokuspokus, einer Zauberei. Laute Zustimmung brauste auf, kein Widerspruch mehr zu hören." Mit diesem "Auftrag" des Saales, den er selbst herbeigeführt hatte, ging Hitler ins Zimmer zurück. Die drei Herren schwenkten der Reihe nach um, zuletzt Kahr. Alle vier und der Münchner Polizeipräsident Erich Pöhner kehrten zurück auf die Bühne. Dort endete Hitlers Schlussansprache gegen 22 Uhr mit den Worten: "Ich will jetzt erfüllen, was ich mir heute vor fünf Jahren als blinder Krüppel im Lazarett gelobte: nicht zu ruhen und zu rasten, bis auf den Trümmern des heutigen kummervollen Deutschlands ein Volk wiederauferstanden sein wird, ein Deutschland der Macht und der Größe, der Freiheit und Herrlichkeit. Amen!"

Hitlers Leibwächter

Das pseudoreligiöse Pathos wies schon auf die spätere Inszenierung des Nationalsozialismus als Ersatzreligion hin: eine Opferliturgie, die in die erlösende Auferstehung mündet. Das wahre Geschehen des 8. und 9. November 1923 verlief anders. Als klar wurde, dass der Putsch der Nationalsozialisten dilettantisch geplant war, bekam das Triumvirat kalte Füße und setzte sich noch im Laufe der Nacht von Hitler ab. Später erklärten die drei, sie hätten von Anfang an nur zum Schein mitgespielt. Niess liefert überzeugende Hinweise dafür, dass das nicht stimmte.

Hitler und Ludendorff standen etwa 2500 Bewaffnete zur Verfügung, aus SA-Verbänden und Angehörigen anderer Freiwilligenverbände. Das war bei weitem zu wenig, um sich gegen Reichswehr und Landespolizei durchzusetzen. Dennoch setzte sich am 9. November gegen Mittag eine Kolonne der Putschisten in Sechzehnerreihen vom Bürgerbräukeller Richtung Innenstadt in Bewegung. Polizeikordons wurden einfach weggedrückt. Auf der Höhe der Feldherrnhalle fielen Schüsse, es kam zu einem halbminütigen Schusswechsel. Wer zuerst geschossen hatte, bleibt unklar. Am Ende gab es 18 Tote: vier Polizisten, 13 Putschisten und ein Neugieriger. Hitler wurde von seinem Leibwächter Ulrich Graf gerettet, der mit seinem Körper Kugeln und Splitter abfing und mit Mühe überlebte.

Wolfgang Niess, "Der Hitlerputsch 1923. Geschichte eines Hochverrats". € 26,80 / 350 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2023.
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Nationalsozialismus als Religionsersatz

Nach der Machtübernahme Hitlers im Jänner 1933 wurde der 9. November zum höchsten Feiertag des NS-Staates. Am Morgen des 9. November 1933 hieß es in der Programmansage des deutschen Rundfunks: "Sie starben für uns. Aus ihrem Blute wuchs das Dritte Reich." Schon 1928 hatte der spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch notiert: "Nationalsozialismus ist Religion. (...) Der Ritus fehlt uns, Nationalsozialismus muss einmal Staatsreligion der Deutschen werden. Meine Partei ist meine Kirche."

Niess’ Buch ist ein Paradestück kritischer Geschichtsbetrachtung und liest sich außerdem äußerst spannend. Für den Autor sind die Lehren aus dem gescheiterten Hitlerputsch ganz klar: Wenn in Zeiten extremer wirtschaftlicher Krisen und sozialer Verwerfungen charismatische Führerpersönlichkeiten mit diktatorischen Neigungen als "Retter in der Not" bereitstehen, ist die Demokratie in höchster Gefahr. Aber: "Selbst in scheinbar aussichtsloser Lage ist ihre Bewahrung und Sicherung möglich – wenn die Demokraten entschieden und klug handeln." Wobei gilt: "Zwischen Demokraten und den Gegnern der Demokratie kann es keinen Kompromiss auf halber Strecke geben." Neun Jahre nach dem gescheiterten Hitlerputsch glaubten führende deutsche Demokraten gegen diesen Grundsatz handeln zu können – und schaufelten damit der Republik das Grab. (Josef Kirchengast, 16.4.2023)