Seinen Beinamen "der Rote" verdankte Erik Thorvaldsson nicht nur seinen roten Haaren und seinem roten Bart. Der um das Jahr 950 in Norwegen geborene Wikinger hatte auch reichlich Blut an den Händen: Zunächst wurde seine Familie wegen eines Mordes nach Island abgeschoben, ehe er dort eine weitere Bluttat beging. Und die sorgte dafür, dass er nach Grönland verbannt wurde.

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DER STANDARD

Nach seiner Rückkehr warb er Kolonisten an, um auf der größten Insel der Welt eine Siedlung anzulegen. Als PR-Coup pries er das Exil erfolgreich als "Grünland" an und legte so den Grundstein für eine vergleichsweise lange Besiedlung der unwirtlichen Insel. Was im Jahr 985 begann, endete Mitte des 15. Jahrhunderts: Die Grænlendingar – also die Wikinger auf Grönland – verließen ihre Siedlungen in Südgrönland für immer.

Doch was war der Grund dafür? Lange Zeit meinte man, dass niedrigere Temperaturen dazu beitrugen, dass die Kolonien nicht länger überlebensfähig waren. Tatsächlich fiel die Besiedlung Grönlands mit dem Übergang der mittelalterlichen Warmzeit (etwa 900 bis 1250 unserer Zeitrechnung) zur Kleinen Eiszeit (etwa ab dem Jahr 1250) zusammen.

Der US-Geograf Jared Diamond vertrat hingegen die Auffassung, dass es neben der Abkühlung noch weitere Faktoren gab: Bodenerosion durch Überweidung, Mangel an Rohstoffen wie Eisen und Holz, Krieg mit den Inuit sowie eine konservative Grundhaltung der Grænlendingar, die sie davon abgehalten habe, Techniken der Inuit zu übernehmen. 2022 kam eine Studie zu dem Schluss, dass eine anhaltende Dürre für den Abzug sorgte.

Die Inuit trugen auch dazu bei, dass die Grænlendingar Grönland verließen. Hier wird einer der letzten grönländischen Wikinger von Julianehaab (heute Qaqortoq) von Inuit ermordet.
Illustration: gemeinfrei

Nun gibt es eine weitere, zumindest ergänzende Hypothese, die auf den ersten Blick etwas überraschend kommt: Einer neuen Studie zufolge, die am Montag im Fachblatt "PNAS" erschien, trugen der steigende Meeresspiegel und die Überflutung der Küsten zur Aufgabe der Wikingersiedlungen in Grönland bei. Überraschend sind die Ergebnisse deshalb, weil man bei einem Absinken der Temperaturen eher das Gegenteil erwarten würde, also das Absinken des Meeresspiegels.

Die Harvard-Dissertantin Marisa Borreggine nutzte mit ihrem Team veröffentlichte geomorphologische und paläoklimatische Daten, um das Wachstum der Eisdecke und den Anstieg des Meeresspiegels in Grönland während der Besetzung durch die Wikinger zu modellieren. Wie sie ermittelten, schob sich während der Kleinen Eiszeit der grönländische Eisschild immer weiter auf den Ozean zu, was paradoxerweise den Meeresspiegel in dieser Gegend anhob.

Modellierter Anstieg des Meeresspiegels in Südgrönland nach dem Beginn der Kleinen Eiszeit im 13. Jahrhundert. Weiße bis dunkelblaue Streifen zeigen die Grenzen des Eisschilds an. Die grünen Punkte markieren die Wikingersiedlungen und die dunkelviolette Fläche die potenziellen Überflutungsgebiete.
Foto: Konstantin Latychev

Geophysikalische Modelle legen nämlich nahe, dass es dadurch zu einer Absenkung der Erdkruste kam – beziehungsweise zu einem geschätzten Anstieg des Meeresspiegels um mehr als drei Meter in der Nähe des Eisrandes, was wiederum bedeutet, dass sich die Küstenlinie um Hunderte von Metern zurückzog. Da viele Wikingerstätten in Grönland in der Nähe der Küstenlinien von eiszeitlich geformten Fjorden lagen, waren sie besonders anfällig für den Anstieg des Meeresspiegels, argumentieren Borreggine und ihr Team.

Mit anderen Worten: Der lokale Meeresspiegelanstieg war ein bisher übersehener, aber wichtiger Grund für die Aufgabe Grönlands durch die Grænlendingar. (Klaus Taschwer, 18.4.2023)