Twitter wird künftig anders gegen Hassrede vorgehen.

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Als Elon Musk im April letzten Jahres ankündigte, Twitter kaufen zu wollen, stellte er ein Versprechen auf: Unter seiner Führung solle der Kurznachrichtendienst zu einem Marktplatz der Redefreiheit werden – der die angebliche Zensur seiner Vorgänger hinter sich lassen werde. Schnell wurde damals klar, dass dieser Plan vor allem eines nach sich ziehen wird: Eine immer größere Reichweite für Hassrede und Desinformation, die zwischenzeitlich sogar Werbekunden dazu brachte, sich von der Plattform zurückzuziehen.

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DER STANDARD

Damals hätte man meinen können, dass das Problem – abgesehen von einer Reihe fehlgeschlagener Experimente mit einer frühen Version des Twitter-Blue-Bezahlabos – auf die Massenkündigungen zurückzuführen sind. Nach seiner Übernahme setzte Musk mehr als die Hälfte der Belegschaft vor die Türe, eine Maßnahme, von der auch das Moderationsteam betroffen war.

Zwar hat sich die Lage bei Twitter mittlerweile stabilisiert. Von seinem eher unkonventionellen Zugang zum Thema Inhaltsmoderation will Musk trotzdem nicht abweichen. Am Montag hat der Kurznachrichtendienst verkündet, den von Musk propagierten Grundsatz "Recht auf Meinungsfreiheit" anstatt "Recht auf Reichweite" zu institutionalisieren. Konkret bedeutet das für Twitter, dass die Reichweite von Beiträgen, die gegen die eigenen Regeln zu Hassrede verstoßen, künftig zwar stark eingeschränkt – in der Regel aber nicht mehr von der Plattform gelöscht werden sollen.

"Ohne Angst vor Zensur"

Offizielle Begründung für diesen Schritt ist das Streben nach immer größerer Transparenz, die schon Beweggrund für die Offenlegung von Teilen des Empfehlungsalgorithmus gewesen sein soll. Denn man sei einerseits der Überzeugung, "dass Twitter-Nutzer das Recht haben, ihre Meinungen und Ideen ohne Angst vor Zensur zu äußern". Andererseits trage man die Verantwortung, Nutzer vor schädlichen Inhalten zu schützen. Warnlabels und die Einschränkung der Reichweite ist laut dem Unternehmen der perfekte Mittelweg.

Was Twitter als nächsten großen Schritt in der Etablierung von Twitter 2.0 verkauft, lässt eine wichtige Frage offen. Obwohl man primär darauf setzen wolle, Hassbeiträge zu verstecken, stellt das Unternehmen in einem Blogbeitrag klar, dass illegale Inhalte und problematische Nutzerinnen und Nutzer weiterhin von der eigenen Plattform verbannt werden sollen. Das Problem dabei: Die rechtliche Definition dessen, was als illegal gilt, unterscheidet sich von Land zu Land. In den USA sind rassistische und sexistische Äußerungen zu weiten Teilen vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt, während etliche EU-Staaten eine strikte Löschung von Hass und Hetze vorschreiben. Vielerorts könnte Twitters neues Warnsystem deshalb schon vor der Einführung obsolet sein.

Rechtlich klar geregelt

Ein gutes Beispiel, warum ein bloßes Verstecken von Postings nicht ausreicht, liefert das österreichische Hass-im-Netz-Gesetz. Dieses schreibt schon heute vor, dass gemeldete Inhalte "je nach der Eindeutigkeit des strafbaren Inhaltes innerhalb von 24 Stunden bis zu 7 Tagen von den Plattformen gelöscht werden". Der kürzlich verabschiedete und ab 2024 anzuwendende Digital Services Act (DSA) der EU verschärft diese Regel weiter –und vereinheitlicht diese für alle Mitgliedstaaten. Unter Androhung empfindlicher Strafen werden Social-Media-Plattformen wie Twitter mit diesem dazu verpflichtet, Drohungen und Beschimpfungen innerhalb von 24 Stunden zu entfernen. Außerdem müssen die Konzerne der Verbreitung von Desinformation entgegenwirken.

Die neuen Vorschriften des DSA dürften Musk zwar ziemlich offensichtlich gegen den Strich gehen, ihnen verwehren wird sich der Twitter-Chef trotz allem nicht können, dafür sind die möglichen Strafen zu hoch. Im Falle von Verstößen kassiert die EU bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes betroffener Internetkonzerne. Eine Summe, die Twitter angesichts seiner wackeligen Finanzlage nicht ganz so einfach wegstecken dürfte.

So sollen die neuen Hinweise aussehen.

Möglich ist natürlich, dass die Regeln länderspezifische Unterschiede aufweisen werden. Dass zum Beispiel US-Amerikaner damit leben müssen, dass Hass und Hetze nicht mehr gelöscht wird, EU-Userinnen diese aber nicht mehr zu sehen bekommen. Allerdings geht das Unternehmen bisher gar nicht näher darauf ein, wie genau das System funktionieren wird – und wo die Grenze zwischen illegalen Inhalten und solchen, die bloß gegen die eigenen Regeln verstoßen, ziehen will. Gilt das US-Recht, EU-Recht oder das nationale Recht anderer Staaten? All das bleibt offen.

Shadowbanning, nur anders

Wirklich neu ist das von Twitter beworbene Vorgehen übrigens nicht. Wie "Mashable" hervorhebt, handelt es sich in Wirklichkeit um eine neu verpackte Implementierung sogenannter "Shadowbans" – und damit einer Praktik, die Musk und seine Fans in der Vergangenheit mehrfach kritisiert haben. Fast alle Social-Media-Firmen haben einen Mechanismus, um ausgewählte Beiträge zu verstecken. Auch Twitter vor Musks Übernahme. Einzige Neuerung ist in Wirklichkeit also, dass User künftig über entsprechende Maßnahmen informiert werden.

Ob der neue "Freedom of Speech, not Freedom of Reach"-Ansatz – sollte er tatsächlich halten – positive Auswirkungen auf den Umgang mit Hass und Hetze haben wird, bleibt deshalb abzuwarten. Auch deshalb, weil Musk schon kurz nach seiner Twitter-Übernahme verkündet hatte, die Reichweite von schadhaften Inhalten deutlich reduzieren zu wollen. In Wirklichkeit konnte zwischenzeitlich ein massiver Anstieg rassistischer Postings verzeichnet werden. Eine Analyse der "Washington Post" zeigte außerdem, dass der Kurznachrichtendienst extremistische Inhalte und Hassrede auf die von Musk erneuerte Startseite von Usern befördert.

Keine Hoffnung

Hinzu kommt die Tatsache, dass Elon Musks Behauptungen, stärker gegen Hassrede, Desinformation und andere schadhafte Inhalte vorgehen zu wollen, nicht sehr glaubwürdig sind. Es dauerte nicht lange, bis er Donald Trump und einen bekennenden Neonazi auf die Plattform zurückbrachte. Dasselbe gilt für Kanye West, der nach seiner zwischenzeitlichen Kontowiederherstellung sofort mit antisemitischen Aussagen auffiel – um erneut gesperrt zu werden. Aber nicht nur das: Musk selbst mischte sich in eine Verschwörungserzählung rund um den Angriff auf Nancy Pelosis Ehemann Paul Pelosi ein und hetzte seine Fans gegen Twitters ehemalige Chefjuristin Vijaya Gadde auf.

Einen Rückgang problematischer Inhalte sollten sich Twitter-User in Wirklichkeit also nicht erwarten. Zumindest nicht aufgrund der neuen Implementierung des Shadowbans. Tatsächliche Auswirkungen könnte hingegen der Digital Services Act mit sich bringen. Zumindest dann, wenn dieser 2024 endlich anzuwenden ist. (Mickey Manakas, 19.4.2023)