Tullimonstrum gregarium, eine Laune der Natur? Zumindest gibt es keinerlei Hinweise auf Vorfahren oder spätere Varianten dieser Tierart – niemand weiß, woher es kam und warum seine Fossilien weltweit ausschließlich in der 300 Millionen Jahre alten Schicht am Mazon Creek vorkommen.

Illustration: Sean McMahon/ Yale University

Seit annähernd 70 Jahren diskutieren Fachleute über Tullimonstrum gregarium. Es ist nicht allein das bizarre Aussehen des urzeitlichen Meereswesens – es besaß offenbar tintenfischähnliche Flossen, Stielaugen und eine Art Rüssel mit bezahnten Kiefern am Ende –, das Paläontologinnen und Paläontologen Kopfzerbrechen bereitet. Das große Rätselraten kreist vor allem um den Platz, den das "Tully-Monster" vor 300 Millionen Jahren im Stammbaumen des tierischen Lebens eingenommen hat. Eine aktuelle Untersuchung erschüttert nun die bisherige Hypothese, Tullimonstrum könnte taxonomisch nahe den Wirbeltierwurzeln zu Hause gewesen sein.

Man hat auch schon versucht, Tullimonstrum bei verschiedenen Wurmfamilien, Mollusken und auch bei den Gliedertieren unterzubringen – bisher weitgehend ohne Ergebnis. An seiner Seltenheit liegt es wohl nicht, mehrere Tausend Fossilien wurden bereits mit Tullimonstrum gregarium in Zusammenhang gebracht. Sie alle weisen auf ein Tier hin, das zwischen zehn und 40 Zentimeter lang werden konnte und einen spindelförmigen Körper besaß. Die meisten Fossilien stammten von rund 30 Zentimeter langen Exemplaren.

Paläontologinnen und Paläontologen werden noch immer nicht schlau aus den Tullimonstrum-Fossilien von Mazon Creek.
Foto: Paul Mayer/Field Museum

Ein merkwürdiger Räuber

Senkrecht stehende Flossen in Rautenform am Hinterende des Tieres sorgten für die Fortbewegung, der langgezogene Rüssel vorne für die Nahrungsaufnahme. Dass es sich dabei wohl um tierische Beute handelte, auf die Tullimonstrum Jagd machte, darauf weisen die mit scharfen Zähnen besetzten, bis zu 1,5 Zentimeter langen Kiefer am Ende des Rüssels hin. Für freie Sicht sorgten zwei gut entwickelte seitlich abstehende Stielaugen an der Oberseite des vorderen Körperbereichs.

Entdeckt wurde das seltsame Urzeitwesen 1958 vom Amateursammler Francis Tully, der die ersten Fossilien in der Mazon-Creek-Formation in Illinois aufsammelte, einer wahren Schatzkammer für Funde aus der Karbonzeit. Tully brachte die paläontologische Kuriosität zum Field Museum of Natural History in Chicago, wo selbst die damaligen Koryphäen hilflos über "Mr. Tully's Monster" den Kopf schütteln mussten. Erst 1966 wurde Eugene Richardson, Kurator am Field Museum, wieder auf das Tully-Monster aufmerksam. In einer Studie würdigte er das enigmatische Fossil mit einem wissenschaftlichen Namen, der an den Finder erinnert.

Evolutionsgeschichtlicher Lückenfüller?

Seither wurden tausende Exemplare unter die Lupe genommen, mit dem Ergebnis, dass selbst über den Stamm, dem dieses Wesen entspross, in der Fachwelt Uneinigkeit herrscht. Einige Studien wiesen das Tully-Monster als Mitglied einer urtümlichen Gruppe von Wirbeltieren aus, eine Art Urahn der späteren Neunaugen. Sollte sich das als korrekt herausstellen, würde Tullimonstrum eine evolutionsgeschichtliche Lücke schließen, die bisher zwischen kieferlosen Fische wie den Neunaugen und Fischen mit Kiefern klaffte.

Die farbkodierten Tiefenscans, die häufig zur Untersuchung von Dinosaurierfußabdrücken verwendet werden, ermöglichten es den Forschenden, die Struktur des Tully-Monsters gründlich zu untersuchen.
Foto/Illustr.: Mikami, 2022

Aktuelle Untersuchungen widersprechen diesen Befunden jedoch. Ein Team um Tomoyuki Mikami von der japanischen Universität Tokio analysierte 3D-Aufnahmen von 153 Tullimonstrum-gregarium-Fossilien aus dem Mazon Creek. Dabei fanden sie Strukturen, die auf eine Form von wirbellosen Tieren hinweisen, schreiben die Forschenden im Fachjournal "Palaeontology". "Der wichtigste Punkt ist, dass das Tully-Monster eine Segmentierung im Kopfbereich hatte, die sich über seinen Körper fortsetzte. Dieses Merkmal ist bei keinem Wirbeltierstamm bekannt", sagt Mikami.

Das Rätsel bleibt ungelöst

Die bisher als wirbeltierähnlich beurteilten Merkmale, darunter ein dreigeteiltes Gehirn, segmentierte Muskeln und Strahlenflossen, unterschieden sich bei einem genaueren Blick doch sehr von den Eigenschaften bekannter Wirbeltiere, meinen die Fachleute. Auch den Rüssels des Tully-Monsters mit seinen schmalen, scharfen Mundwerkzeugen nahm die Gruppe mit dem 3D-Verfahren unter die Lupe – mit dem Resultat: Diese Strukturen stimmten ebenso nicht mit den Hornzähnen von Neunaugen und Schleimaalen überein, den bisher mutmaßlichen Verwandten des Tully-Monsters.

Obwohl sich das Team aufgrund seiner Untersuchungen also sicher ist, dass das Tully-Monster kein urtümliches Wirbeltier war, bleiben immer noch viele Fragen offen: Was war es tatsächlich? Woraus entwickelte sich Tullimonstrum, und wohin verschwand es wieder? Und warum kommen seine Fossilien weltweit ausschließlich in der 300 Millionen Jahre alten Schicht am Mazon Creek vor?

Wahrscheinlich fehlen noch die entscheidenden Teile, um dieses evolutionäre Puzzle zu lösen, so die Fachleute. "Wir brauchen einfach noch mehr Untersuchungen, um aus den Fossilien von Mazon Creek die vielleicht entscheidenden Hinweise zur Identität des Tully-Monsters zu gewinnen", sagt Mikami. (Thomas Bergmayr, 18.4.2023)