Arbeiterkindern, die es trotz aller Umstände an eine Hochschule geschafft haben, räumt Bildungspsychologin Christiane Spiel gute Chancen für den Abschluss ihres Studiums ein.

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"Als letztes Kind der Familie war ich die einzige Chance meines Vaters, seinen Traum zu verwirklichen und ein Leben zu führen, das nicht nur aus Arbeit besteht", erzählt Sinem C.* Sie ist die jüngste von drei Geschwistern und die Erste in ihrer Familie, die ein Studium begonnen hat. Derzeit studiert die 20-Jährige Deutsch und Ethik auf Lehramt in Linz und arbeitet nebenbei geringfügig in einer Bäckerei.

So wie Sinem sind aktuell rund 392.000 Menschen in Österreich für ein Studium eingeschrieben. Die Zahl der Abschlüsse auf Hochschulniveau hat hierzulande zuletzt sogar einen neuen Höchstwert erreicht: Der Anteil junger Erwachsener mit höherem Bildungsabschluss lag 2021 bei 42 Prozent – ein Anstieg um sieben Prozentpunkte seit 2011. Das zeigt die OECD-Studie "Education at a Glance 2022". Doch trotz steigender Zahl an Hochschulabsolvetinnen und Absolventen sind die Bildungschancen in Österreich nach wie vor ungleich verteilt.

"Es gibt von Beginn an eine Schere, die immer weiter aufgeht. Diese Ungleichheit zieht sich vom Kindergarten bis zur Universität", sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel. Kinder aus unteren sozialen Schichten besuchen seltener höhere Schulen oder beginnen ein Studium als Kinder, deren Eltern einen höheren Bildungsstand haben – und das auch bei gleicher Leistung.

"Zumeist gehen Kinder aus Familien mit schwächerem Bildungshintergrund – oft auch mit Migrationshintergrund – in andere Schulen", sagt Spiel. Das würde die Chancen auf einen Bildungserfolg noch einmal mehr verringern, denn die Schulleistung von Kindern hänge nicht nur von ihnen, sondern auch von der gesamten Klasse ab. Eine Berechnung des gewerkschaftsnahen Momentum-Instituts, basierend auf Zahlen der Statistik Austria, legt nahe, dass die soziale Durchlässigkeit des heimischen Bildungswesen gering ist (siehe Grafik).

Hürden beim Einstieg

Und trotzdem gibt es sie: Kinder aus Arbeiterfamilien an den Hochschulen. Auf einen Social-Media-Aufruf des STANDARD meldeten sich innerhalb weniger Tage ein Dutzend junge Menschen mit Erfahrungsberichten. Sich für ein Studium entscheiden, Vorlesungen besuchen und für Prüfungen lernen – der Eintritt ins Studentenleben stellt für viele junge Menschen einen gänzlich neuen Lebensabschnitt dar. Neben allgemeiner Verunsicherung als Neuling an der Hochschule berichten die Leserinnen und Leser auch von eindrücklichen Situationen, die sie aufgrund ihrer sozialen Herkunft erlebt haben.

"Oft kam ein mulmiges Bauchgefühl auf bei dem Gedanken, dass man sich im Studium keine Rückschritte leisten kann, denn ein finanzielles Sicherheitsnetz, das einen in schwierigen Zeiten auffängt, gibt es schlichtweg nicht", sagt Ilma D.* Der finanzielle Aspekt beschäftigt sie schon lange, erzählt die 26-Jährige: "Es war mir nie wichtig, später einmal viel zu verdienen. Aber schon als ich 16 war, habe ich mir als Ziel gesetzt, finanziell unabhängig zu sein, damit ich meine Eltern nicht noch mehr belaste."

Roman P.* beschreibt eine Situation, die ihn als Arbeiterkind fast vom Studium abgehalten hätte: "Meine Eltern waren mit mir nie im Museum. Ich bin also über Umwege zum Kunststudium gekommen und musste mir viel selbst und durch Freund:innen aneignen. Als mir dann gesagt wurde, dass man nebenbei auch nicht arbeiten kann und eine Matura zwar nicht notwendig, aber erwünscht ist, hat mich das schon abgeschreckt." Da der 31-Jährige zuvor bereits berufstätig war, hat er Anspruch auf ein Selbsterhalterstipendium. "Anders wäre ein Studium für mich auch nicht leistbar."

Unterstützung in der Familie

Zwar berichten die meisten davon, dass ihre Familie sie in ihrer Entscheidung für das Studium unterstütze. Doch selbstverständlich ist das nicht für jede und jeden. Das belegt auch die Studierenden-Sozialerhebung des Instituts für Höhere Studien: Je niedriger die Bildung der Eltern ist, desto schlechter bewerten Studierende die Unterstützung bei ihrer generellen Studienentscheidung. Während 95 Prozent oder mehr der Studierenden von Eltern mit einem Studienabschluss dem zustimmen, trifft dies "lediglich" auf 79 Prozent bei Menschen, deren Eltern maximal Pflichtschulabschluss haben, zu.

"Nach meinem Studienalltag oder wie es mir so geht auf der Uni und was ich da mache – all das interessiert niemanden daheim", beschreibt eine Physik-Doktoratsstudentin den Umgang im familiären Umfeld. Obwohl die Universität, seit sie 18 ist, ihr Alltag und Lebensinhalt sei, habe sie das Gefühl, darüber nicht mit ihrer Familie sprechen zu können.

Ein anderer hat hingegen die Erfahrung gemacht, als Arbeiterkind an der Uni nicht willkommen zu sein: "Nach der Enthüllung der Berufe meiner Eltern habe ich bemerkt, wie sich die Einstellung der Student:innen mir gegenüber änderte", schreibt er. "Obwohl ich früher Pläne hatte, einen Ph. D. zu machen, gab ich diese nach dem Abschluss meines Masterstudiums auf. Ich konnte mich mit der wissenschaftlichen Bubble nicht mehr identifizieren", berichtet der 27-Jährige über die Folgen der negativen Erfahrungen mit Studierenden aber auch Lehrenden an der Hochschule.

Je früher Benachteiligungen ausgeglichen werden, desto besser, sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel.
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Fehlende Daten

Kindern aus Nichtakademikerhaushalten, die es trotz aller Umstände an eine Hochschule geschafft haben, räumt Christiane Spiel gute Chancen für den Abschluss ihres Studiums ein. Gesammelte Daten über den weiteren Verlauf gibt es laut der Bildungspsychologin aber wenig bis gar nicht: "Es fehlen vor allem Längsschnittstudien, also Erhebungen, die den Übergang von Kindern und Jugendlichen von der Schule an begleiten." In der benachbarten Schweiz wurden beispielsweise Erhebungen mit Kindern seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 durchgeführt, um deren weitere Bildungs- und Berufswege nachvollziehen zu können.

Dabei wären diese Daten besonders wichtig, um Maßnahmen zur Förderung von Kindern aus bildungsfernen Schichten gezielt setzen zu können. Eines steht laut Spiel jedoch fest: Einfache Lösungen gibt es nicht. "Man kann sich aber an Ländern, die hier erfolgreich sind, orientieren", betont die Psychologin, "und möglichst früh anfangen, das heißt am besten bereits im Kindergarten". Denn: Je früher Benachteiligungen ausgeglichen werden, desto besser; das erspart Frustrationen und Probleme in der Schule. Ganz wichtig seien laut Spiel außerdem niederschwellige Angebote: "Einfach nur Informationen auf eine Website stellen und erwarten, dass Eltern mit schwachem Bildungshintergrund sie finden, reicht nicht. Die Förderungen müssen zu den Menschen kommen und direkt bei den Bildungseinrichtungen andocken."

Neue Wege gehen

Viele der jungen Menschen aus Nichtakademikerhaushalten berichten vor allem von einer hohen intrinsischen Motivation, ein Studium zu absolvieren. "Ich habe mich bis vor kurzem eigentlich nie damit befasst, dass meine Eltern nicht studiert haben. Ich habe es aber immer als großes Privileg gesehen, dass ich studieren kann", sagt Sarah K.* Die 24-Jährige absolviert derzeit Geowissenschaften im Master, während des Studiums sei ihr aber aufgefallen, dass sie mir ihrem sozialen Hintergrund allein ist: "Bei allen anderen hat mindestens ein Elternteil studiert, meist auch etwas Naturwissenschaftliches. Für viele ist es sogar selbstverständlich zu studieren, obwohl sie eigentlich gar keine Lust haben."

"Was für manche selbstverständlich scheint, bleibt für viele unerreichbar", fasst Ilma zusammen. Doch nicht nur das Studium, auch den Berufseinstieg erleben Kinder aus Arbeiterfamilien in einem akademischen Umfeld oft anders: "Da ist dieses Gefühlschaos zwischen Freude, Stolz und Herzschmerz, auf das einen niemand vorbereitet, wenn die Ausbildung abgeschossen ist und sich plötzlich Türen öffnen, die den eigenen Eltern immer verwehrt geblieben sind", sagt die 26-Jährige.

Neue Wege beschreitet auch Sinem: "Mir wurde eigentlich ein anderes Leben in die Wiege gelegt." Auf gut Glück haben ihre Eltern sie damals ins Gymnasium geschickt, "einfach, um es einmal zu probieren", erzählt sie. Weil ihr das Lernen leicht fiel, blieb sie in der Schule und machte schließlich die Matura. Mit der Wahl ihres Lehramtsstudiums ist die 20-Jährige rundum zufrieden: "Das ist genau das Richtige für mich. Ich hatte immer viel Spaß in der Schule und möchte das später auch anderen weitergeben." (Anika Dang, 26.4.2023)