Glühend rot erhebt sich die Sonne über schroffen Berggipfeln. Wie schlafende Riesen werfen die massigen Felsen ihre Schatten auf sattgrüne Almen, wo noch nicht mal die Kühe ihr morgendliches Muhen aufgenommen haben. Plötzlich durchschneidet ein krachendes Rattern das Idyll, wird von Sekunde zu Sekunde lauter, kommt näher: Es ist das erste Motorrad des Tages, und es bleibt bei weitem nicht das einzige. Dann folgen schon die ersten Autos, die sich im dichten Kolonnenverkehr durch das Tal und die Serpentinen die Passstraße hinaufschlängeln. Dieser Strom an Fahrzeugen wird nicht abreißen, bis die Sonne am Abend wieder untergeht. Am nächsten Tag beginnt das Spiel von Neuem. Willkommen im Unesco-Weltnaturerbe Dolomiten!

Die Dolomiten sind nicht nur wegen des Naturerlebnisses ein beliebtes Ausflugsziel, auch die zahlreichen Kurven ziehen an. Vor allem Individualverkehr.
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Die Alpenpässe im Norden Italiens sind seit Jahrzehnten eine der Topdestinationen für motorisierte Reisende auf zwei und vier Rädern. Sellajoch, Grödnerjoch, Campolongo, Pordoijoch wollen nicht nur auf Instagram – Puristen greifen noch zu Postkarten – bestaunt werden, sondern auch an der frischen Luft. Seit der Corona-Krise mehr denn je. Auf dem Sellajoch etwa zählte man im vergangenen August täglich 4160 Fahrzeuge. In den Jahren vor der Pandemie pendelten die Zahlen zwischen 3100 und 3600. Die Diskussion, wie lange das noch gutgehen soll, ist alt.

Linienbus statt Motorrad

Jetzt aber soll sich etwas ändern. Unter dem Titel "Low Emission Zone" wollen das Land Südtirol, die Provinzen Belluno und Trient und die Region Venetien den Autoverkehr in den Dolomiten massiv einschränken. Ein Vorhabensbericht spricht davon, den Autoanteil am Verkehrsaufkommen bis 2030 von 80 auf 36 Prozent zu reduzieren. Busse, die 2020 nur drei Prozent der Gäste in die Höhe beförderten, sollen dann fast jeden Dritten nach oben bringen. Bei Seilbahnen erwartet man einen Anstieg von zwei auf 16 Prozent, bei Fahrrädern von drei auf zehn Prozent.

Die Ziele klingen hehr. Bei der Frage, wie sie erreicht werden sollen, fängt es an, kompliziert zu werden. Denn einfach eine regionenübergreifende Maut einzuführen, wie sie etwa auf der Glockner-Hochalpenstraße zwischen Kärnten und Salzburg existiert, das gebe die italienische Straßenverkehrsordnung nicht her, erklärt Verkehrslandesrat Daniel Alfreider von der Südtiroler Volkspartei (SVP) im Gespräch mit dem STANDARD. Daher tüftelt die Landespolitik derzeit gemeinsam mit dem Digitalisierungs- und dem Infrastrukturministerium in Rom an einer Lösung. Kein leichtes Unterfangen – erst recht in Italien.

Denn am 20. Oktober unterzeichneten die genannten Entscheidungsträger in Rom eine Absichtserklärung. Zwei Tage später trat die neue Rechtskoalition unter Giorgia Meloni ihr Amt an. Die Ministerposten wurden neu besetzt, die politischen Karten neu gemischt. Aber man sei im Gespräch, sagt Alfreider.

E-Bikes für die Höhenmeter

Was es für das Vorhaben jedenfalls braucht, sind Parkplätze. Entstehen sollen diese an den Taleingängen, etwa in Pontives im Grödner- oder in Moena im Fassatal. Im Projektentwurf ist von knapp 4000 neuen Stellplätzen die Rede. Gerade an ihnen – sowie an der Aufwertung der Seilbahnen – stoßen sich die oppositionellen Südtiroler Grünen. Sie befürchten am Ende noch mehr Besucherinnen und Besucher in den Bergen, die den Naturraum, unabhängig von ihrer Fortbewegungsart, massiv belasten. Geht es nach Landesrat Alfreider, dürften aber zumindest die bestehenden Seilbahnen ausreichen, um das Besucheraufkommen zu bewältigen. Neubauten fallen im Idealfall also weg.

Den Radverkehr sollen wiederum Radstreifen schmackhaft machen. Erste Abschnitte am Grödner- und am Sellajoch gibt es bereits, heuer macht man am Valparolapass weiter. Gute Erfahrungen gibt es zudem seit Jahren mit einzelnen völlig autofreien Tagen in den Dolomiten. Den Sellaronda Bike Day rund um das Sellamassiv nutzen jedes Jahr – einmal im Juni, einmal im September –, an die 12.000 Radlerinnen und Radler. E-Bike-Ladestationen sollen das höhenmeterreiche Fahrradfahren noch massentauglicher machen.

Die Dolomiten bieten einige der schönsten Motorradrouten. Des einen Freud ist aber des anderen Leid, vor allem der viele Verkehr und Lärm.
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Erste Erfahrungswerte mit Verkehrsbeschränkungen hat Südtirol bereits mit Zufahrtskontingenten zum Pragser Wildsee gesammelt. Seit 2022 müssen Auto- und Motorradfahrer zwischen Juli und September online Tickets buchen, um zu dem See südöstlich von Bruneck zu gelangen. Da es sich bei der Zufahrt allerdings um eine Sackgasse handelt und nicht auf Durchzugsverkehr achtgegeben werden muss, war die logistische Herausforderung im Vergleich zu den Dolomiten gering.

"Der Pragser Wildsee ist in der Hinsicht Amateurliga, die Dolomiten sind die Champions League", sagt Alfreider. Denn über die Pässe fahren nicht nur Touristinnen und Touristen, sondern auch Kinder zur Schule oder Berufstätige zum Arbeitsplatz. Im Juli und August sind das zwar nur etwa zehn Prozent des gesamten Verkehrs, in der Nebensaison allerdings bis zu 80 Prozent. "Das ist Verkehr, der auf jeden Fall durchfahren muss und das Recht dazu hat."

Stille bleibt Zukunftsmusik

Wer die neue Stille allerdings schon für den diesjährigen Dolomitenurlaub einplant, der wird enttäuscht. Die politischen Mühlen mahlen, wie erwähnt, langsam. Bislang hat man erst einmal die Höchstgeschwindigkeit auf 60 Kilometer pro Stunde herabgesetzt. 2024 sollen digitale Kontrollsysteme folgen, die aber vorerst nur der Datensammlung und der Simulation möglicher Verkehrsströme dienen. Und dann bleiben eben noch die genauen Regelungen, wann, wer, wie und zu welchem Preis über die Dolomiten fahren darf.

Der Südtiroler Opposition geht das naturgemäß zu langsam. "Wir sind an einem Punkt, an dem wir mehr brauchen als die x-te Datenerhebung", klagt die grüne Fraktionssprecherin im Landtag, Brigitte Foppa. Paul Köllensperger von der nach ihm benannten Namensliste Team K ortet eine "Alibipolitik, um nicht einschneidendere Maßnahmen ergreifen zu müssen wie eine entschiedene Verkehrsregulierung oder die Schließung der Dolomitenpässe für Motorradfahrer und Instagram-Touristen im Pkw."

Und auch wenn Landesrat Alfreider betont, "alle Stakeholder einbinden" zu wollen: Ebendiese sehen sich derzeit offenbar noch nicht ausreichend informiert. Die Südtiroler Handelskammer als Vertretung von Wirtschaft und Tourismus wollte sich daher nicht zu dem Projekt äußern. Vom italienischen Automobilklub ACI gab es ebenso wenig Rückmeldung. Die Diskussion könnte freilich noch laut werden. In den Dolomiten hingegen kehrt hoffentlich Ruhe ein. Irgendwann. (Michael Windisch, 21.4.2023)