Bis ins Jahr 1958 muss man zurückblättern. Damals, in der Zeit totaler sowjetischer Dominanz des Weltschachs, saßen einander Wassili Smyslow und Michail Botwinnik in Moskau gegenüber und spielten um den Schachweltmeistertitel. Gleich fünf der ersten sechs Partien fanden einen Sieger, am Ende setzte sich mit Botwinnik der Patriarch der sowjetischen Schachschule durch.

65 lange Jahre mussten die Schachfans warten, um noch einmal eine WM serviert zu bekommen, bei der es von Anfang an dermaßen deftig zur Sache geht. Zu Halbzeit des WM-Matches zwischen Jan "Nepo" Nepomnjaschtschi (RUS) und Ding Liren (CHN) in der kasachischen Hauptstadt Astana steht es 4:3 für den Russen. Nur zwei der sieben Partien endeten mit Remis, dreimal gewann Nepomnjaschtschi, zweimal siegte Ding Liren.

Ende einer Ära

Kein langsames Abtasten also, keine Remis-Serie, bei der sich die Spannung erst nach und nach aufbaut – und manchmal auch wieder verflüchtigt –, bis es (hoffentlich) zum Paukenschlag eines ersten Sieges kommt: An diese Dramaturgie hatte sich das Publikum unter der Regentschaft Magnus Carlsens (NOR) gewöhnt, der vor zehn Jahren mit einem Matchsieg über Vishwanathan Anand (IND) zum ersten Mal Schachweltmeister wurde.

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Während Carlsen die bedeutenden Turniere des vergangenen Jahrzehnts meist dominierte, tat sich der Mann, in dem viele den besten Spieler aller Zeiten erkennen wollen, bei WM-Matches merkwürdig schwer. Seine beiden Titelverteidigungen gegen Sergei Karjakin (New York, 2016) und Fabiano Caruana (London, 2018) schlugen in insgesamt 24 klassischen Partien mit sage und schreibe 22 Remis zu Buche. Beide Wettkämpfe endeten 6:6 unentschieden, beide Male zertrümmerte Carlsen seine Herausforderer im zur Entscheidung anberaumten Schnellschach-Tiebreak und behielt den Titel.

2021 triumphierte Carlsen in Dubai gegen Jan Nepomnjaschtschi dann endlich einmal standesgemäß. Nach fünf zähen Remisen zu Beginn brach der Russe ein, Carlsen siegte insgesamt vier Mal und gewann das Match mit 7,5 zu 3,5. Danach aber hatte der Norweger genug von den langen WM-Duellen – obwohl sie mit ihrer dreiwöchigen Dauer im Vergleich mit den alten Zeiten ohnehin wie ein Sprint anmuten. Botwinnik und Smyslow bekämpften einander 1958 in Moskau noch zwei ganze Monate und 23 Partien lang, bis ein Sieger feststand.

Fantastisches Schach

Weil der Champion nicht mehr mag, sitzen einander in Astana seit 9. April die Nummern zwei und drei der Weltrangliste gegenüber. Nach sieben gespielten Partien wünscht sich kaum jemand eine WM unter Beteiligung Carlsens zurück. Ding und Nepo bieten einfach viel zu viel fantastisches Schach.

Dabei war im Vorfeld diskutiert worden, ob der Sieger von Astana überhaupt als erst siebzehnter Spross jener Ahnenreihe akzeptiert werden würde, die 1886 mit dem ersten allgemein anerkannten Weltmeister Wilhelm Steinitz begann. Rein sportlich ist der WM-Titel, wie auch Ex-Weltmeister Garri Kasparow anmerkte, durch die Abwesenheit der Nummer eins der Weltrangliste definitiv stark entwertet. Was den Gehalt der Partien sowie den Unterhaltungsfaktor betrifft, haben Ding Liren und Jan Nepomnjaschtschi die Weltmeisterschaften der Ära Carlsen dagegen jetzt schon in den Schatten gestellt.

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Einfach großartig etwa, wie der bei Interviews immer sympathisch schüchtern stammelnde Ding Liren in Runde sechs zum zweiten Mal einen Matchrückstand egalisierte, indem er Nepomnjaschtschis König in einem fein gewebten Mattnetz fing. Ding hatte seinen Gegner, einer Eingebung am Morgen vor der Partie folgend, mit dem Londoner System überrascht – einer im Amateurschach höchst beliebten Eröffnung, die einst ausgerechnet Magnus Carlsen auf Profilevel salonfähig gemacht, bei Weltmeisterschaften aber nie angewandt hatte.

Dass Ding in der am vergangenen Dienstag gespielten siebenten Partie in Zeitnot die Nerven versagten, Nepomnjaschtschi damit zum dritten Mal in Führung ging, war dann bereits das nächste dramaturgische Highlight in einem Match, das an Spannung bisher ziemlich unüberbietbar ist.

Ein echter Aussetzer

Der Chinese brach in besserer Stellung unerwartet zusammen, nachdem er zuvor mit ungeheuer präzisem Spiel einen Mattangriff Nepos zurückgeschlagen hatte. Es war im Übrigen die erste Partie des hochklassig geführten Wettkampfs, die durch einen echten Aussetzer entschieden wurde.

Die besseren Titelchancen hat nun natürlich der erneut in Führung liegende Jan Nepomnjaschtschi. Sollte die zweite Hälfte der WM der ersten auch nur ähneln, wird sich der Weltranglistenzweite auf seinem Pünktchen Vorsprung jedoch kaum ausruhen können. (Anatol Vitouch, 20.4.2023)