Kemal Kılıçdaroğlu baut auf Verbindendes.

"Ich bin ein Alevit. Ich bin ein aufrechter Muslim, der im Glauben an den Propheten Mohammed und an Ali erzogen wurde." Dieses Bekenntnis von Kemal Kılıçdaroğlu in einem Video an die jungen Wählerinnen und Wähler, die bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai das erste Mal ihre Stimme abgeben können, hat am Mittwochabend in der Türkei wie eine Bombe eingeschlagen. Bis Donnerstagmittag wurde es mehr als 50 Millionen Mal angeschaut und zehntausendfach retweetet. Denn was Kılıçdaroğlu da seinen Zuhörenden in lockerer Form und mit offenem weißem Hemd aus seinem Arbeitszimmer in Ankara erzählt, kommt einem Tabubruch gleich.

Aus Angst vor Diskriminierung, die im letzten Jahrhundert bis hin zu gezielt geschürten Massakern an Aleviten ging, reden die Angehörigen dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft in der Regel nicht offen darüber, dass sie Aleviten sind. Viele orthodoxe sunnitische Muslime, die die Basis der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bilden, halten Aleviten für Häretiker, die schlimmer sind als Ungläubige. Dabei sind 15 bis 25 Prozent aller Türken und Türkinnen Aleviten.

Vielbeachtetes Video

Deshalb stand unausgesprochen seit der Nominierung von Kılıçdaroğlu zum gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der Opposition immer die Befürchtung im Raum, Erdoğan könne das Alevitentum Kılıçdaroğlus auf den letzten Metern des Wahlkampfs für eine Schmutzkampagne ausschlachten. Dem ist Kılıçdaroğlu nun mit seinem spektakulären Video, das in der Opposition bereits als historisch gefeiert wird, zuvorgekommen.

An die Jungwähler gewandt sagte er: "Ihr habt die Chance, mit eurer Stimme das Land aus den schmerzhaften, sektiererischen Debatten über Sunni – Alevi, Türken, Kurden, Lasen, Tscherkessen und Arabern herauszuholen. Wir wollen nicht länger über das Trennende, über Unterschiede und Aussonderungen reden, sondern über das Gestalten, über geteilte Träume und Gemeinsamkeiten. Willst du an unserer Expedition zur Veränderung des Systems teilhaben, willst du ein ehrliches und aufrechtes Land, anstatt das herrschende System, das zu Aleviten nur Nein sagt"?

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Geschickter Tabubruch

Im Plauderton, der dem Tabubruch die Schärfe nimmt, erzählt Kılıçdaroğlu von sich. "Ich wurde in einem armen Haushalt geboren, weit entfernt von dem Wohlstand des Landes." Seine Familie kommt aus der Provinz Tunceli, die früher Dersim hieß und für ihre aufständische Gesinnung bekannt war. Viele nationalistische Türken sehen in den Einwohnern von Tunceli nach wie vor potenzielle Aufrührer.

Kılıçdaroğlu sagt dazu: "Wir können uns unsere Herkunft und Identität nicht aussuchen, aber wir können sie mit Würde tragen. Was wir uns aussuchen können, ist, ob wir ehrlich und aufrichtig sind. Wir können ein besseres Leben in einem freien und wohlhabenden Land für alle wählen." Erstmals könnte mit Kılıçdaroğlu ein Alevit Präsident der Türkei werden.

Überwindung der Spaltung

Für sein Video hat Kılıçdaroğlu schon jetzt viel Zuspruch bekommen und dem Wahlkampf damit eine neue Dimension gegeben. Auch Vertreter der kleinen, radikalen sunnitischen Saadet-Partei, die dem Oppositionsbündnis angehört, haben versichert, die Diskriminierung gegen Aleviten müsse aufhören. Während Erdoğan bei seinen Wahlkampfauftritten vor allem seine Anhänger anspricht und abstrakt die Größe der Türkei und ihre angebliche tolle Zukunft beschwört, setzt Kılıçdaroğlu auf die Überwindung der Spaltung im Land.

Schon vor dem Video hatte er sich bei einem Wahlkampfauftritt dagegen verwehrt, dass alle Wähler und Wählerinnen der kurdischen HDP "Terroristen" seien. Man könne nicht "alle 15 Millionen Kurden" als potenzielle Terroristen verunglimpfen. (Jürgen Gottschlich, 20.4.2023)