Mit viel Herz bestreitet Kemal Kılıçdaroğlu seine Wahlkampfauftritte. Für den 74-Jährigen selbst ist es wohl die letzte Chance, das autoritäre System Tayyip Erdoğans zu beenden.

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Es ist noch nicht lange her, als der Name Kemal Kılıçdaroğlu bei Kritikern des amtierenden Präsidenten Tayyip Erdoğan zu eher abschätzigen Bemerkungen führte. "Hoffentlich wird diese Schlaftablette nicht der Herausforderer Erdoğans", meinten viele, "der wird das nicht schaffen." Mittlerweile hat sich die Stimmung gedreht. Seit Kemal Kılıçdaroğlu tatsächlich zum gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der Opposition ausgerufen wurde, zeigt er mehr Mut und taktisches Geschick, als die meisten ihm zugetraut hatten.

Tatsächlich ist Kılıçdaroğlu von seinem Naturell und seiner politischen Prägung eher der ruhige, vermittelnde Typ, kein Volkstribun und Macho-Führer, von denen es in der türkischen Politik ja so viele gibt. Etliche sehen in ihm deshalb einen Kandidaten, der dem Volkstribun Erdoğan nicht ausreichend Paroli bieten kann. Andere hoffen dagegen auf die Verbindlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und strategische Weitsicht des Herausforderers.

Angebliche Makel

Kılıçdaroğlu stammt aus einer armen alevitischen Familie aus der Region Tunceli. Beides gilt in der Türkei als Makel. Für türkische Nationalisten ist Tunceli eine kurdisch-alevitische Aufstandsprovinz, deren Menschen nicht zu trauen ist. Kılıçdaroğlu hat mit seinem ganzen bisherigen Leben gezeigt, dass diese Vorurteile haltlos sind. Er ist ein zutiefst überzeugter Demokrat und Anhänger eines republikanischen, säkularen, aber toleranten Staats.

Der heute 74-Jährige studierte an einer Akademie für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften in Ankara und ging anschließend ins Finanzministerium. Er wurde ein vorbildlicher Bürokrat, der bis zum Chef der öffentlichen Sozialversicherung SSK aufstieg. Politisch engagiert er sich seit langem in der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP. Er gehörte zu den Kritikern des früheren CHP-Chefs Deniz Baykal, eines Mannes vom alten Schlag des autoritären Kemalismus.

Mit einer Kampagne gegen die Korruption im Regierungslager von Istanbul setzte er 2009 im Kampf um den Oberbürgermeisterposten für die größte türkische Stadt erste deutliche Akzente. Zu Recht gilt er persönlich als bescheiden, integer und ehrlich. Bis heute lebt er mit seiner Familie in einer relativ kleinen Wohnung in Ankara.

Schmerzhafte Niederlagen

Ein Jahr später übernahm er von Baykal den Vorsitz der CHP und begann, die Partei zu modernisieren: weg vom autoritären Kemalismus hin zu einer moderateren sozialdemokratischen Partei. Dennoch musste er bei mehreren Wahlniederlagen schmerzlich lernen, dass die CHP allein gegen Erdoğan und seine AKP nicht gewinnen kann.

Die Rechte hat in der Türkei seit Jahrzehnten eine strukturelle Mehrheit, und Erdoğan hat es geschafft, verschiedene Fraktionen der Rechten in seiner AKP zu vereinen. 2016 spitzte sich ein Richtungsstreit beim Koalitionspartner Erdoğans, der ultranationalistischen MHP, dann aber so zu, dass sich die Partei spaltete. 2017 wurde unter Führung der Frontfrau Meral Akşener die İyi Parti als neue rechte Partei außerhalb des Einflusses von Erdoğan gegründet. Da sah Kılıçdaroğlu die Chance zu einem Bündnis, das über die bisherige Wählerschaft der CHP hinausgehen könnte.

Bündnis erweitert

Mit großem taktischem Geschick verhalf er Akşener und deren neuer Partei zum Einzug ins Parlament, indem er zeitweilig einige CHP-Abgeordnete an sie auslieh, und testete das neue Bündnis erstmals bei den Kommunalwahlen 2019. Der Erfolg war durchschlagend: Das Bündnis konnte der AKP nicht nur die Metropolen Istanbul und Ankara abnehmen, es gewann auch in den sechs nächstgrößten Städten des Landes.

Seitdem hat Kılıçdaroğlu die Kooperation mit der İyi Parti gepflegt und das Bündnis um weitere kleinere Parteien erweitert, die alle das politische Ziel eint, Erdoğan von der Macht zu verdrängen und das von ihm geschaffene autoritäre Präsidentenregime wieder in eine parlamentarische Demokratie zurückzuverwandeln.

Dieses Bündnis reicht von der religiösen Saadet-Partei über zwei Parteien, die sich aus Enttäuschung über Erdoğans Autoritarismus von der AKP abgespalten haben, bis zur rechten İyi Parti und dem Überrest der früher Mitte rechts stehenden Demokratischen Partei.

Jahrelange Kleinarbeit

Dieser sogenannte Sechser-Tisch ist das bislang größte Verdienst Kılıçdaroğlus. Die anderen Parteien im Bündnis stehen alle rechts von der CHP, und Kılıçdaroğlu hofft, dass die Wählerbasis des Bündnisses damit breit genug ist, um Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai schlagen zu können.

In jahrelanger Kleinarbeit hat Kemal Kılıçdaroğlu dieses heterogene Bündnis mit viel diplomatischer Geduld zusammengehalten und zuletzt auch die Einwände gegen seine Kandidatur damit entkräftet, dass er den beiden populären Oberbürgermeistern von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, einen herausragenden Platz in seiner Wahlkampagne eingeräumt hat.

Terrorismusvorwurf

Um aber wirklich eine Chance zu haben, Erdoğan als Präsident vom Thron stoßen zu können, braucht Kılıçdaroğlu die Stimmen der kurdischen Wähler und Wählerinnen der eher linken HDP. Das ist für seine eigenen rechten Koalitionspartner ein Problem. Eine wenn auch nur indirekte Zusammenarbeit mit der HDP eröffnet aber vor allem Erdoğan die Möglichkeit, Kılıçdaroğlu als Mann darzustellen, der von den "Terroristen" der HDP/PKK abhängig ist.

Zuerst einmal hat Kılıçdaroğlu es geschafft, die HDP, die nun bei den Parlamentswahlen wegen des drohenden Parteiverbots unter dem Label der Grün-Linken antritt, davon zu überzeugen, keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen.

Das wird dazu führen, dass nun tatsächlich viele HDP-Wähler und -Wählerinnen für ihn stimmen werden. In einem durchaus mutigen Schritt hat er dann Erdoğans Terrorismusdiffamierungen gekontert und dem Präsidenten bei einem Wahlkampfauftritt vorgeworfen, 15 Millionen Kurden und Kurdinnen im Land pauschal des Terrorismus zu verdächtigen.

Seine letzte Chance

Kemal Kılıçdaroğlu hat jahrelang mit zäher Geduld auf die jetzt bevorstehende Wahl hingearbeitet. Er hat viele Demütigungen und Angriffe Erdoğans und seiner Anhänger ertragen, um an diesen Punkt zu kommen. Er weiß, dass es für ihn persönlich die letzte politische Chance ist, aber wohl auch für das Land die vorerst letzte Chance, aus dem autoritären, nationalreligiösen Klammergriff herauszukommen.

Er möchte als "Demokrat-Dede", als Vater der Demokratie, in die Geschichte eingehen, hat er kürzlich vor jungen Leuten gesagt. Tatsächlich traut man ihm zu, dass er, sollte er gewählt werden, die von Erdoğan errichtete Präsidialherrschaft wieder auf eine eher repräsentative Rolle des Präsidenten zurechtstutzt und stattdessen das Parlament wieder zum entscheidenden Ort der türkischen Politik macht. Für die Türkei, aber auch für Europa wird das eine richtungsweisende Entscheidung von enormer Bedeutung. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 25.4.2023)