Das Gebäude am Burgring steht in seiner Pracht den großen Kirchenbauten wie dem Stephansdom, Notre-Dame, Petersdom oder Westminster Abbey um nichts nach. Doch während es sich bei diesen um Kathedralen des Glaubens handelt, ist das Naturhistorische Museum (NHM) in Wien eine Kathedrale des Wissens. Hier folgt alles einer Ordnung, die nicht durch eine höhere Macht, sondern vielmehr durch die bei der Erforschung der Natur entdeckten Gesetzmäßigkeiten definiert wird.

Alexander von Humboldt, ein wissenschaftlicher Säulenheiliger in der Kathedrale des Wissens.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger

Seit dem Jahr 1889 bietet dieser vom Gottfried Semper und Karl von Hasenauer geschaffene Palast einen korrespondierenden Rahmen für die vielfältigen naturwissenschaftlichen Sammlungen, deren Ursprung noch rund 140 Jahre weiter zurückreicht und auch heute noch deutlich sichtbar ist. Es handelt sich also in einem gewissen Sinne um die Metaebene eines Museums, sozusagen um das Museum eines Museums.

In den Schausälen lohnt ein Bild nach oben: Hier finden sich zahlreiche Gemälde wie dieses Idealbild einer steinzeitlichen Gemeinschaft.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger

Dieser Besonderheit Rechnung tragend wurde nun im NHM unter dem Titel "Der ordnende Blick" ein Geschichtspfad eingerichtet. Die bewegte Historie der Sammlungen des Museums und einzelner besonderer Objekte wird dabei ebenso greifbar wie die Entwicklung der wissenschaftlichen Sicht auf die Welt sowie die Bedeutung der künstlerischen Saalausstattungen.


Sammlungen wurden im Laufe der Zeit nach verschiedenen Ansätzen geordnet. Während es in den Wunderkammern nach Äußerlichkeiten wie der Ästhetik ging, wurden im NHM schon früh wissenschaftliche Kriterien gewählt.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger

Von der Wunderkammer ...

Schon im 16. Jahrhundert füllten die europäischen Herrscher ihre Wunderkammern mit allerlei Merkwürdigkeiten aus der Natur an. Im Jahr 1748 legte Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen den Grundstock für seine persönliche Sammlung: Er erwarb die Naturalienkollektion von Johann Ritter von Baillou. Diese umfasste rund 30.000 Objekte: Edelsteine, Mineralien, Korallen, Schnecken, Muscheln und Fossilien waren bereits nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten geordnet. Bald darauf veröffentlichte Carl von Linné sein bis heute gültiges System der Ordnung aller Lebewesen der Welt.

Auf dem Kaisergemälde im Stiegenaufgang des NHM Wien ist Kaiser Franz Stephan inmitten seiner Sammlung und im Kreise seiner Wissenschafter zu sehen.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger

Der Kaiser holte sich die führenden Wissenschafter seiner Zeit als Berater für seine Sammlung, die er konsequent ergänzte. Unter anderem nahm er den 1751 gefallenen Eisenmeteoriten von Hraschina in die Kollektion auf. Lange bevor der außerirdische Ursprung der Himmelssteine wissenschaftlicher Konsens wurde, legte Franz Stephan damit den Keim für die größte ausgestellte Meteoritensammlung der Welt. Diese wird auch heute noch kontinuierlich ergänzt – erst vor wenigen Tagen etwa mit der prächtigen Scheibe eines Mondmeteoriten, deren Erwerb nur dank der Spende eines Gönners möglich wurde.

Der Meteorit von Hraschina ist das Gründungsobjekt der gewaltigen Meteoritensammlung des NHM.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger

Nach Franz Stephans Tod wurde die in der Hofburg aufgestellte Sammlung bereits 1765 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit zum Museum, das der Bildung durch Anschauung diente. Forschungsexpeditionen wie jene anlässlich der Heirat von Leopoldine von Habsburg mit dem portugiesischen Kronprinzen Dom Pedro nach Brasilien oder die Weltumsegelung der Novara lieferten Objekte aus fernen Gebieten für die bereits aus allen Nähten platzende Museumssammlung. So kamen auch viele Objekte nach Wien, deren kolonialer Kontext heute in einem kritischen Licht gesehen wird. Durch die Schleifung der Stadtmauern unter Kaiser Franz Joseph ermöglichte der Bau der Ringstraße die Errichtung adäquater Museumsbauten für die kaiserlichen Sammlungen.

Alt und neu: In einer originalen Vitrine ist ein modernes Diorama untergebracht.
Foto: NHM Wien /Rittmannsperger

... zum Evolutionsmuseum

Das NHM wurde dabei nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet: Erst 1859 hatte Charles Darwin seine Evolutionstheorie vorgestellt und damit insbesondere in Wien sehr rasch Anhänger in der wissenschaftlichen Szene gefunden. Dazu zählte auch der NHM-Direktor Ferdinand von Hochstetter. Trotz der konservativ-religiösen Haltung von Franz Joseph wurde das neue Museum in seinem Namen "dem Reiche der Natur und seiner Erforschung" gewidmet, wie an der Fassade zu lesen ist. So wurde es zum ersten Evolutionsmuseum der Welt – ein ungemein weitsichtiger Schritt zu einem Zeitpunkt, als die neue Theorie von der Entstehung der Arten noch umstritten und angefeindet war.

In der Kuppelhalle findet man zwischen diversen Allegorien auch den Darwinfries – eine für die Zeit erstaunliche Darstellung.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger

In der Kuppel des Hauses ist, vom Boden der Kuppelhalle aus schwierig zu entdecken, inmitten der reichen Wandverzierung der Darwin-Fries angebracht: Ein Affe hält einem Menschen einen Spiegel vor, während ein anderer Darwins Buch in Händen hält. Dies ist nur eine Station des neuen Geschichtspfades, einer umfangreichen Schnitzeljagd durch die Historie der Wissenschaft wie auch der Institution NHM. (Michael Vosatka, 29.4.2023)

Das Stopfpräparat eines Javanashorns stammt aus dem Jahr 1801.
Foto: NHM Wien / Rittmannsperger