Als Joe Biden am 20. Jänner 2021 auf den Stufen des US-Kapitols zum 46. US-Präsidenten vereidigt wurde, galt es weithin als abgemacht: Kamala Harris, die den Eid als Vizepräsidentin ablegte, würde über kurz oder lang die Nummer 47 werden.

Doch Biden denkt nicht daran, den Stafettenstab zu übergeben: Er, der mit 80 Jahren schon jetzt der älteste Staatschef in der US-Geschichte ist, will es noch ein letztes Mal wissen und glaubt – vielleicht zu Recht – dass nur er den republikanischen Gegenkandidaten, der wieder Donald Trump heißen könnte, besiegen kann.

Wird Kamala Harris noch einmal US- Vizepräsidentin?
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Wird also Harris um ihre Chance betrogen? Oder schlimmer noch: Hat sie es sich gar selbst zuzuschreiben, dass sie nun keine Chance bekommt, selbst anzutreten?

Kein Automatismus

Ein Blick in die jüngere Vergangenheit macht klar: Es gibt keinen Automatismus, der Vizepräsidenten oder Vizepräsidentinnen zur Nummer eins macht – im Gegenteil. Vor Joe Biden schaffte es nur George Bush senior, aus dem Schatten seines Bosses zu treten und selbst Präsident zu werden. Alle anderen hatten mit ihrem Amt des Stellvertreters bereits den Zenit ihrer Laufbahn erreicht. Manche verschwanden sogar schon während ihrer Amtszeit in der Bedeutungslosigkeit – wie etwa Bush-Vize Dan Quayle.

Droht auch Harris dieses Schicksal? Tatsächlich weisen die Umfragen keine guten Werte für Harris aus. Die Gründe dafür sind nach Ansicht von Fachleuten sehr unterschiedlich. Möglicherweise sei sie von Kommunikationsfachleuten zu stark in Richtung Vorsicht gecoacht worden, analysiert etwa die Meinungsforscherin Rachel Bitecofer im progressiven Wochenmagazin "New Statesman": "Sie machen mit ihr, was sie mit Hillary Clinton gemacht haben, nämlich: 'Sag dies nicht, sag das nicht, tu das nicht.' Das verursacht bei ihr Angst, überhaupt etwas zu sagen. Und wenn man vorsichtig ist, wirkt man nicht sympathisch."

Und dann ist da ihr Chef: Dieser tat das, was alle Chefs taten, tun und tun werden: lästige, unangenehme Aufgaben delegieren.

Undankbare Aufgaben

Und so muss sich Harris um das wenig populäre, aber umso drängendere Problem der irregulären Einwanderung beschäftigen, wo sie keine Pluspunkte sammeln kann. Misserfolge werden oft Harris zugeschoben, Erfolge fährt der Chef selbst ein – ein Mechanismus, der auch aus der herkömmlichen Arbeitswelt sattsam bekannt ist.

Biden und Harris gehen wohl wieder gemeinsam ins Rennen um den erneuten Einzug ins Weiße Haus.
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Auch in Sachen Abtreibungsrecht und Schusswaffengesetze tut sie sich schwer, ihre Positionen durchzusetzen – auch in der eigenen Partei.

Erschwert wird das nicht zuletzt durch die Tatsache der heiklen Machtbalance im US-Senat, wo Mehrheiten bei Abstimmungen oft nur von ihrer Entscheidung als Vorsitzende der Kammer abhängen.

Fall bloß nicht auf!

Ist es jetzt also zu spät für Harris? Keineswegs: Große Fehler hat sie bisher eigentlich nicht begangen. Sie mag zwar kaum positiv aufgefallen sein – aber auch nicht negativ. Und damit erfüllte sie ziemlich erfolgreich eine Vorgabe, die in ihrem Amt traditionell gefordert wird.

Biden wird zudem so gut wie sicher wieder mit Harris ins Rennen gehen – alles andere wäre ein großer Fehler: Die Kalifornierin mit indischen und jamaikanischen Vorfahren genießt bei Schwarzen und Frauen immer noch große Unterstützung. Diese wahlentscheidenden Gruppen vor den Kopf zu stoßen, das kann sich Biden nicht leisten.

Für Harris könnte sich das neuerliche Antreten mit Biden sogar als Vorteil erweisen: Sollte das Duo 2024 noch einmal gewinnen, könnte sie ihre zweite Amtszeit ohne Rücksicht auf Biden und sogar mit dessen offener Unterstützung "präsidiabel" anlegen – um dann 2028 selbst anzutreten. Sie wäre dann vergleichsweise jugendliche 64 Jahre alt. Und womöglich, mit Verspätung, die erste Präsidentin der USA. (ANALYSE: Gianluca Wallisch, 27.4.2023)