Willie Nelson wird am Samstag 90 Jahre alt. Eine Diät aus Rauchgras, guter Laune und fast immer guter Musik macht's möglich.

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Als 1969 sein Haus in Feuer stand, rannte Willie Nelson ins Gebäude, um zwei Dinge zu retten: seine Gitarre und ein halbes Kilo Gras – und damit ist keine Wiese gemeint. Beides sind lebenswichtige Dinge für den letzten großen Country-Sänger aus der goldenen Ära des Fachs.

Am Samstag wird Willie Nelson 90 Jahre alt. Das ist selbst für Menschen mit einem geregelten Lebenswandel ein erstaunliches Alter, erst recht für einen wilden Hund wie Willie, der alles, was er anbrennen ließ, auch inhalierte und viele Jahre im Tourbus lebte: On the Road Again heißt einer seiner bekanntesten Songs.

Nelson bei Farm AId in den 1980ern.
Farm Aid

Doch trotz globaler Ehrungen und Glückwünsche plagt ihn zurzeit eine Sorge: In einem im Netz kursierenden Post sagt er, dass sich die jungen Menschen langsam Gedanken darüber machen sollten, welche Welt sie Keith Richards und ihm hinterlassen wollen. Humor, genau. Den hat er.

Nelson misst ohne Trucker-Kappe keine Ein-Meter-siebzig und ist dennoch ein Gigant – quantitativ wie qualitativ. Zwar gibt es bei amtlich beglaubigten 73 Studioalben mehr als ein paar Nieten, denn Willie ist vieles, nur nicht faul. Doch Nelson hat die Grenzen der Musik längst überschritten: Er ist ein Pop-Phänomen. Die New York Times vermutet gar, er könnte der einzige US-Amerikaner sein, auf den sich Demokraten und Republikaner einigen könnten. "Willie for President"-T-Shirts sind seit Jahren im Umlauf.

Winnetous Oma

Diese These begründet sich im Werk und im Phänomen gleichermaßen. Country gilt als uramerikanische und konservative Musik, die die USA gerne verklärt darstellt. Es ist die Musik des Hinterlands, die Musik der viel bemühten einfachen Leute. Die bedient Nelson ebenso wie Liberale, für die bereits seine Erscheinung ein Signal ist.

Früh wechselte er von der obligatorischen Western-Garderobe in eine gemütlichere Gala, wie sie jeder Fetzentandler offeriert. Er trägt lange Haare, meist zu Zöpfen geflochten, die eine Physiognomie umrahmen, die so verwittert ist, dass er stets die erste Wahl bei der Besetzung von Winnetous Großmutter sein müsste.

Bussi!
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Seine Falten stammen von vielen heiteren Stunden, die er mit dutzenden Duettpartnerinnen- und -partnern verbracht hat. Er ist ein Freund von Jimmy Carter, war einer von Johnny Cash, sein Nachbar auf Hawaii ist Kris Kristofferson, und wenn ihm in Los Angeles die Papers ausgehen, läutet er beim Rapper Snoop Dogg an. Mit dem verbindet ihn – unter anderem – seine Vorliebe für Cannabis.

Instinktentscheidungen

Nelson entdeckte es für sich in den 1960ern und blieb dem Kraut treu, weil es ihn, anders als Alkohol, nicht aggressiv macht. Eine von vielen Instinktentscheidungen seines Lebens, mit denen er auch künstlerisch gut gefahren ist. So entschied er sich, 1978 ein Album mit Pop-Standards aus dem American Songbook aufzunehmen. Seine Plattenfirma war entsetzt, Willie stur. Stardust hieß das Ergebnis, blieb zehn Jahre lang in den Country-Charts und verkaufte sich millionenfach. Danach wurde er nie wieder von Plattenfirmen belästigt.

Funky Country: "Shotgun Willie."
chubbychaysa

Der am 29. April 1933 im Kuhdorf Abbott in Texas geborene Musiker nahm seine erste Single 1957 auf, sein Debütalbum ... And Then I Wrote erschien 1962. Doch es sollte zehn Jahre, 15 Alben und zwei von vier Ehen dauern, bis Nelson seine Rolle gefunden hatte. Anfang der 1970er war er als Songschreiber und Interpret bekannt, doch die Auflagen seiner Labels kollidierten beständig mit der Vision des Freigeistes. Dann traf er den Produzenten Jerry Wexler. "Scheiß auf die Verkaufszahlen, du bist ein Künstler!", sagte Wexler zu Nelson, der Rest ist Geschichte.

Ideale der Gegenkultur

Nelsons erstes Album für Wexler war Shotgun Willie (1973), ein zentrales Werk des Outlaw-Country. So wurde eine Blase von Country-Musikern genannt, die von den Idealen der Gegenkultur mehr angetan waren als von den zu Brettern gestärkten Anzügen ihrer Kollegen, aus denen heraus die Welt mit Tunnelblick betrachtet wurde. Als Outlaws galten Johnny Cash, Waylon Jennings oder der erzkonservative Merle Haggard – und eben Nelson. Sie brachen mit der in Nashville vorherrschenden Heile-Welt-Musik.

Es folgten Alben wie Red Headed Stranger oder Phases and Stages, auf denen der Nasentenor mit zärtlichem Idiom über das richtige Leben sang, von seiner Erfahrung und seinem Herzen zehrte. Nelson fand sich selbst.

Ominivs

Zu seinen Hits zählen Lieder wie Mammas Don’t Let Your Babies Grow Up to Be Cowboys oder If You’ve Got the Money I’ve Got the Time. Die 1980er eröffnete er mit dem fantastischen Angel Flying Too Close to the Ground und einer anrührenden Version von Always on My Mind. Novizen sind mit jeder Best-of gut beraten, zu seinen stärksten Werken zählen das hier ausführlich gewürdigte Spirit (1996), Teatro (1998) oder Moment of Forever (2008) – sowie alle zuvor erwähnten.

Alter Bastard

Er spielte in knapp 40 Filmen mit, gründete die Benefizveranstaltung Farm Aid, war Mitglied der Supergroup The Highwaymen und wuchs zum Phänomen, das nicht einmal eine 30-Millionen-Dollar-Steuerschuld aus der Bahn warf. Er hat mit allen und jedem gesungen, was oft zu viel war, dazwischen aber immer wieder tolle Alben abwarf.

Willie Nelson - Topic

Das hohe Alter nimmt er trotz gesundheitlicher Probleme – die Lunge, was sonst? – mit Humor: Roll Me Up and Smoke Me When I Die nannte er vor einigen Jahren eine Single. Sein neuestes Album ist erst vor einem Monat erschienen, es heißt I Know a Thing About Love: The Songs of Harlan Howard. Souverän, aber nur eines von vielen von ähnlicher Güte.

Ans Aufhören denkt der Jubilar nicht. "Gut möglich, dass ich der älteste Bastard da draußen bin, aber solange mich jemand hören will, werde ich spielen." – Darauf einen Ofen. (Karl Fluch, 29.4.2023)