Bis zu 50.000 Glanzwürmer können sich zu Knoten verbinden. Während das Verknoten Minuten braucht, sind es zum Entknoten nur Millisekunden.
Foto: Georgia Institute of Technology

Knoten können nützlich, aber auch ziemlich lästig sein. Je nach Situation sollen sie sich entweder leicht lösen lassen oder aber fest zubleiben, und nicht immer tun sie das Erhoffte im richtigen Moment.

Ob sich Knoten überhaupt lösen lassen beziehungsweise ob zwei Knoten ineinander umgewandelt werden können, kann je nach Art des Knotens äußerst schwierig zu beantworten sein. Das Problem ist für die Mathematik interessant, wo die Knotentheorie ein eigenes Feld ist, das zur sogenannten Topologie gehört.

Das abstrakte Gebiet der Knotentheorie hat in den letzten Jahren unerwartete Anwendungen in der Biochemie gefunden, wo die Faltung von langen Ketten aus Aminosäuren entscheidend die Form und damit die Eigenschaften des daraus entstehenden Proteins bestimmt.

Knoten in Würmern

Doch nun bringt die mathematische Theorie der Knoten neues Licht in ein unerwartetes Feld. Eine aktuell im Fachjournal "Science" erschienene Studie wendet die Mathematik der Knoten auf ein verblüffendes biologisches Phänomen an, bei dem sogenannte Glanzwürmer sich zu Abertausenden verbinden und eine Art Ball bilden. Es ist ein Schutzmechanismus dieser im Süßwasser heimischen Ringelwurmspezies.

Die Bildung eines Knotens hat für sie verschiedene Vorteile, doch in manchen Fällen sehen sich die Tiere genötigt, den Knoten schnell aufzulösen. Während das Verknoten einige Minuten dauert, brauchen sie für das Lösen nur Bruchteile von Sekunden. Wie die einfachen Organismen diese komplexe Aufgabe bewältigen, war bislang nicht geklärt.

Die Gruppe von Saad Bhamla vom Georgia Institute of Technology tat sich zur Untersuchung des Phänomens mit einem Team vom Massachusetts Institute of Technology zusammen, das auf Mathematik spezialisiert ist.

"Wir wollten die genauen Mechanismen verstehen, die dahinter stecken, wie die Würmer ihre Bewegungsdynamik ändern, um sich zu verknoten und ultraschnell wieder zu entwirren", sagt Bhamla. Dass es sich nicht um typische Fäden wie Schnüre, Netzwerkkabel oder Spaghetti, sondern um lebende, aktive Verflechtungen handelt, erweitere das Problem um eine weitere faszinierende Ebene.

Ein Video, das zeigt, wie Würmer Knoten bilden.
Georgia Tech College of Engineering

Die Fähigkeit der Würmer, die sich bei den Experimenten zeigte, verblüffte die Forscher. "Ich war schockiert, als ich ein UV-Licht auf die Wurmklumpen richtete und sie sich so explosionsartig auflösten", sagt Bhamlas Kollege Harry Tuazon. "Um dieses komplexe und faszinierende Manöver zu verstehen, begann ich, Experimente mit nur wenigen Würmern durchzuführen." Die Ergebnisse zeigte man dann dem Mathematik-Team.

Dieses war ebenfalls gefesselt von dem Phänomen. "Knoten und Knäuel sind ein faszinierender Bereich, in dem Physik und Mechanik auf sehr interessante Mathematik treffen", sagt Vishal Patil. "Diese Würmer schienen eine gute Spielwiese zu sein, um topologische Prinzipien in Systemen zu untersuchen, die aus Fäden bestehen."

Der Ansatzpunkt für die Lösung war das Video eines einzelnen Wurms, bei dem es gelungen war, den Entwirrungsreflex auszulösen. Der Wurm bewegte sich in Form einer Acht, wobei sein Kopf abwechselnd im und gegen den Uhrzeigersinn rotierte.

Blick in den Wurmknoten

Um zu sehen, ob das wirklich das entscheidende Muster bei der Entknotung war, brauchte es mehr experimentelle Daten. Doch es fehlte eine Möglichkeit, ins Innere des Wurmknotens zu blicken.

"Die Erfassung der inneren Struktur eines lebenden Wurmes war eine echte Herausforderung", sagt Tuazon. "Wir haben monatelang alle möglichen bildgebenden Verfahren ausprobiert, darunter Röntgenstrahlen, konfokale Mikroskopie und Tomografie, aber keines davon bot uns die Echtzeit-Daten, die wir benötigten. Letztendlich erwies sich der Ultraschall als die Lösung."

Die Würmer wurden dazu in ein ungiftiges Gelee eingeschlossen. Die gewonnenen Ultraschalldaten wertete man per Hand aus. Dabei entstanden 46.000 Datenpunkte, die das Mathematik-Team für weitere Analysen verwenden konnte, um ein mathematisches Modell des Wurmverhaltens anzufertigen. Dabei ließ sich zeigen, dass jeder Wurm eine Verbindung mit mindestens zwei weiteren Würmern eingeht, was die Stabilität des Wurmknotens erklärt.

Entwirrung in Wellen

"Auffallend ist, dass diese verworrenen Strukturen extrem kompliziert sind", betont der Mathematiker Patil. "Es sind ungeordnete und komplexe Strukturen, aber diese lebenden Wurmstrukturen sind in der Lage, diese Knoten für entscheidende Funktionen zu manipulieren."

Es zeigte sich, dass die Bewegung der Würmer in Form einer Acht, die seit Jahrzehnten bekannt ist, tatsächlich eine wichtige Rolle bei dem wie koordiniert wirkenden Verhalten des Wurmknotens spielt. Bisher war es niemandem gelungen, diese Verbindung zu belegen.

Die Bewegung der Würme erfolgt dabei in schraubenförmigen Wellen, die sich in Resonanz befinden müssen, einander also ergänzen wie die Schwingungen in einem Musikinstrument. Es handelt sich laut Patil und seinem Team um ein allgemeingültiges Prinzip beim Entwirren von Knoten. Für das Ergebnis mussten Methoden aus Topologie, angewandter Mathematik und Ingenieurwesen kombiniert werden.

Wurmroboter

Anwendungsmöglichkeiten sieht Bhamla in der Technik. Die neuen Erkenntnisse können helfen, einfache Roboter zu komplizierten Strukturen zusammenzufügen und verlässlich wieder zu lösen.

"Aktiv formverändernde topologische Materialien sind derzeit noch Science-Fiction", sagt Bhamla. "Doch stellen Sie sich ein weiches, nicht verwobenes Material vor, das aus Millionen fadenförmiger Filamente besteht, die sich auf Kommando ver- und entwirren können und so einen intelligenten Klebeverband bilden, der bei der Wundheilung seine Form verändert, oder ein intelligentes Filtermaterial, das die Porentopologie verändert, um Partikel unterschiedlicher Größe oder chemischer Eigenschaften aufzufangen. Die Möglichkeiten sind endlos." (Reinhard Kleindl, 28.4.2023)