Wenn Mama oder Papa Grenzen setzen, verursacht das beim Kind Frust oder Wut. Eltern sollten dennoch klar bei ihrer Entscheidung bleiben und das Kind trösten.

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Nora Imlau hat als Journalistin und Autorin mehrerer "Spiegel"-Bestseller die deutsche Erziehungslandschaft maßgeblich beeinflusst. Seit vielen Jahren engagiert sie sich für die Rechte von Eltern, insbesondere Schwangeren, Kindern und Hebammen. Die vierfache Mutter gilt als eine der wichtigsten Stimmen einer neuen Elterngeneration, die ihre Kinder bedürfnisorientiert erziehen will.

STANDARD: Der autoritäre Erziehungsstil hat ausgedient. Eltern erziehen ihre Kinder heute lieber bedürfnisorientiert. Was heißt das überhaupt?

Imlau: Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet, dass es zu Hause einen Umgang miteinander gibt, der sich an den Bedürfnissen aller Familienmitglieder orientiert. Ziel der Elternschaft ist es, diese unterschiedlichen Bedürfnisse zu erkennen und miteinander in Einklang zu bringen.

STANDARD: Wenn ein Baby nachts schreit, weil es getragen oder ständig gestillt werden will, die Eltern aber müde sind und Schlaf brauchen, dann wird es schwer, die kindlichen und elterlichen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen.

Imlau: Elternsein hat immer etwas mit einer gewissen Aufopferung zu tun. Besonders bei kleinen Babys müssen wir unsere eigenen Bedürfnisse häufig zurückstellen. Ich kann natürlich einem Baby nicht abverlangen, dass es mit wenigen Wochen schon durchschläft. Dass frischgebackene Eltern müde und erschöpft sind, ist normal, und es geht allen so. Dennoch ist es wichtig, dass Eltern von Beginn an auch für sich selbst sorgen. Ein Beispiel: Wenn das Baby schreit und ich als Mutter gerade noch ein Glas Wasser trinken will, dann ist es völlig okay. Auch kleine Babys können einen Augenblick warten. Als Mama darf man auch allein aufs Klo gehen oder duschen. Für die Kinder ist es wichtig, dass sie die Bedürfnisse ihrer Eltern von Beginn an sehen und spüren.

STANDARD: Es geht bei bedürfnisorientierter Erziehung also nicht darum, dass man als Eltern immer sofort die Wünsche der Kinder erfüllt?

Imlau: Absolut nicht. Leider wird bedürfnisorientierte Erziehung oft missverstanden. Ich habe in meinen Workshops ganz oft Mütter sitzen, die den ganzen Tag nichts essen oder trinken, sich verkneifen, auf die Toilette zu gehen, weil das ihr Kind frustrieren könnte. Das ist natürlich ein Maß von Selbstaufopferung, das auf Dauer nicht funktionieren kann.

STANDARD: Das ist auch häufig die Kritik an bedürfnisorientierter Erziehung oder "Attachement-Parenting". Immer mehr Eltern wollen dieses Erziehungsmodell zwar leben, landen dann aber im Eltern-Burnout. Warum passiert das?

Imlau: Eltern von heute sind oft selbst in autoritären Familien groß geworden. Nach dem Motto: Die Eltern bestimmen, das Kind hat zu gehorchen. Bei ihren eigenen Kindern wollen sie das Prinzip auf den Kopf stellen: Die Kinder bestimmen, die Eltern gehorchen. Das macht weder Eltern noch Kinder glücklich. Denn völlig ausgebrannte Eltern können am Ende keine liebevollen Eltern mehr sein.

STANDARD: Und wie schafft man es, nicht auszubrennen und dennoch bedürfnisorientiert zu erziehen?

Imlau: Bedürfnisorientierte Erziehung funktioniert nicht ohne persönliche Grenzen. Wer das versucht, landet im Eltern-Burnout. Wir dürfen unseren Kindern aufzeigen, wo sie aufhören und wo wir beginnen, wo unsere individuellen Scham- oder Belastungsgrenzen liegen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Grenzen können auch ganz freundlich, zugewandt und haltgebend sein.

STANDARD: Was macht es denn mit den Kindern, wenn Eltern klare Grenzen setzen?

Imlau: Für die Kinder fühlt es sich in dem Moment nicht schön an, deswegen müssen wir ja emphatisch und mitfühlend bleiben. Wenn man liebevoll Grenzen setzt, dann lernen sie schon früh einen gewissen Bedürfnisaufschub und auch mit Mikrofrustration umzugehen. Gleichzeitig lernen sie, wie sie selbst Grenzen wahren und für sich sorgen. Das ist sozusagen eine gute Investition in ihre Zukunft und die unserer Kinder.

Nora Imlau gehört in Deutschland und Österreich zu den bekanntesten Vertreterinnen der bindungsorientierten Erziehung. Ihr aktuelles Buch, erschienen bei der Verlagsgruppe Beltz: "Meine Grenze ist dein Halt. Kindern liebevoll Stopp sagen".
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STANDARD: Warum fällt es Erwachsenen so schwer zu spüren, wo ihre Grenzen liegen?

Imlau: Kinder wachsen damit auf, dass sie ihre Grenzen ganz deutlich spüren. In der Autonomiephase ab etwa zwei Jahren sagen Kinder ständig "Nein" oder zeigen ihre Grenzen auf. Wenn Kinder in dieser Phase ignoriert oder sogar gestraft werden, dann verlernen sie irgendwann, ihre eigenen Grenzen aufzuzeigen oder zu spüren. Genau das ist vielen Eltern von heute selbst als Kindern passiert. Wir müssen erst wieder lernen, unsere Grenzen und Bedürfnisse zu spüren. Auch dies ist eine Art von Selbstfürsorge, die wir gemeinsam mit unseren Kindern erlernen können.

STANDARD: Was verändert sich denn, wenn Eltern besser für sich selbst sorgen?

Imlau: Es gibt da diesen Spruch: "Der wichtigste Weg zur guten Erziehung ist Selbsterziehung." Tatsächlich hängt unser Umgang mit unseren Kindern massiv davon ab, wie wir mit uns selbst umgehen. In der Bindungsforschung ist erwiesen, dass wir bei Dauerstress nicht mehr feinfühlig sein können. Wenn unsere eigenen Tanks gut gefüllt sind, wenn wir glücklich sind mit uns selbst, dann werden wir automatisch responsiver und können auch besser auf die Bedürfnisse unserer Kinder eingehen.

STANDARD: Ich kenne Eltern, die immer sanft und liebevoll sind, dann aber am Spielplatz plötzlich ausrasten, weil das Kind sich weigert, irgendwas zu tun. Sie schimpfen und schreien dann, sie werden richtig wütend. Was passiert da?

Imlau: Alle Eltern haben eigene Vorsätze oder Regeln, an die sie sich bei der Erziehung ihrer Kinder halten möchten. Ein Beispiel wäre: "Ich schreie meine Kinder niemals an." Gleichzeitig gehen Eltern immer wieder über ihre Belastungsgrenzen und merken gar nicht, wie sich der Druck auf sie immer vergrößert. Wenn sie da nicht rechtzeitig reagieren und mit Selbstfürsorge entgegensteuern, dann wird sich irgendwann all dieser aufgestaute Frust entladen in einer großen Explosion. Dann schimpfen Eltern, verbieten und werfen mit Sachen. Dieser Wutausbruch ist der verzweifelte Notausgang ihrer Psyche. Eltern ziehen dann eine Grenze, die so groß ist, dass sie niemand mehr überschreiten kann, indem sie etwa mit Verboten drohen. Für Kinder ist das total erschreckend und überhaupt nicht zu verstehen. Mama oder Papa waren ja die ganze Zeit liebevoll und ruhig, und dann aus heiterem Himmel rasten sie aus.

STANDARD: Nicht nur für die Kinder ist das erschreckend. Auch die Eltern fühlen sich im Nachhinein mies und zweifeln an sich. Was können sie tun, wenn sie mal explodieren?

Imlau: Sowas kann jeder Mutter und jedem Vater mal passieren. Man kann sich danach beim Kind entschuldigen und ruhig besprechen, was gerade passiert ist. Das wird die Kinder nicht traumatisieren. Besser ist es dennoch, schon vorher auf die eigenen Grenzen und Bedürfnisse zu achten, damit es zu einer derartigen Explosion gar nicht kommt. Das ist ein Prozess, der dauert bei Eltern meist mehrere Jahre. Dazwischen gehen Eltern immer wieder emotional hoch, schimpfen, drohen, schreien und fühlen sich schlecht. Irgendwann gelingt es aber.

STANDARD: Ich finde es im Alltag als Mutter schwer, Grenzen zu setzen, wenn es gar nicht meine eigenen sind. Ein Beispiel: Das Kind will noch länger fernsehen. Ich finde aber, eine Stunde ist genug. Hat ja nichts mit meiner eigenen Grenze zu tun. Wie reagiere ich?

Imlau: Das hat jetzt nichts mit deinen persönlichen Grenzen zu tun, dennoch kann es Gründe dafür geben, dass du es als Mutter verbietest. Du möchtest zum Beispiel nicht, dass dein Kind vom Fernsehen überreizt wird, oder dir ist es lieber, dass es sich noch ein bisschen bewegt. Du hast ja auch die Verantwortung für die Gesundheit und Sicherheit deines Kindes. Gleichzeitig könnte es auch gute Gründe dafür geben, dass es noch weiter fernsehen darf. Weil es zum Beispiel zufrieden dabei ist, es Spaß macht und du als Mama eine Pause hast. Als Erwachsener ist es dein Recht, eine Lösung zu wählen, die du persönlich besser findest. Wichtig ist es, dass du die dann auch mit Klarheit vertrittst. Etwa: "Du hast jetzt eine Stunde ferngesehen, jetzt ist Schluss. Wir können aber noch gerne was spielen." Oder: "Weißt du was, heute machen wir eine Ausnahme. Du darfst noch eine halbe Stunde fernsehen, und ich trinke derweil einen Kaffee."

STANDARD: Es gibt aber auch Situationen, da geht es weder um meine persönlichen Grenzen noch um die Gesundheit oder den Schutz meines Kindes. Wieder ein Beispiel: Mein Kind bekommt etwas geschenkt und bedankt sich nicht.

Imlau: Da handelt es sich um einen Glaubenssatz. Die Eltern wollen als Familie einer Höflichkeitsnorm entsprechen. Sicher, es kann für Eltern peinlich oder unangenehm sein, wenn das Kind sich nicht bedankt. Es hat aber nichts mit einer persönlichen Grenze zu tun. Eltern dürfen sich in solchen Situationen auch selbst hinterfragen oder Lösungen finden, ohne das Kind unter Druck zu setzen. Zum Beispiel können sie sich anstelle ihres Kindes bedanken.

STANDARD: Bleiben wir bei dem Beispiel: Wenn ich eine Grenze setze und den Fernseher sofort ausschalte, kommt es wahrscheinlich zu Frust und Widerstand beim Kind. Wie geht man damit um?

Imlau: Das Kind weint und tobt vielleicht. Es kann sein, dass es ein Kuscheltier nach einem wirft und schreit "blöde Mama". Eltern müssen dennoch bei ihrer Entscheidung bleiben und diese mit Klarheit vertreten. Wichtig ist, emphatisch zu bleiben und sich nicht erpressen zu lassen: "Du bist wütend und traurig, weil ich den Fernseher ausgemacht habe. Das verstehe ich, aber der Fernseher bleibt aus." Es ist wichtig, das Kind wegen seiner Gefühle nicht zu schimpfen oder es zu bestrafen. Man darf sich allerdings auch schützen. Wenn das Kind anfängt, einen zu hauen, dann muss man wieder klar eine Grenze setzen: "Hör zu, ich sehe, du bist frustriert, aber ich werde mich auch nicht hauen lassen. Hör bitte auf damit, sonst muss ich rausgehen."

STANDARD: Das klingt so einfach ... dennoch verkaufen sich Erziehungsratgeber zu bedürfnisorientierter Erziehung wie warme Semmeln. Sind Eltern wirklich so inkompetent?

Imlau: Die meisten Eltern haben es eben anders gelernt. Da wurden nur Grenzen wirkungsvoll gesetzt, indem gestraft wurde. Grenzen gingen immer mit einer gewissen Härte einher, mit diesem "Wenn, dann". Grenzen liebevoll setzen müssen viele neu lernen. (Nadja Kupsa, 29.4.2023)