Im Gastblog analysiert die Politikwissenschafterin Saskia Stachowitsch, wie sich die Rolle der EU als Sicherheitsakteur auf ihre Geschlechterpolitik auswirkt.

Die Europäische Union (EU) soll endlich ein "echter" Sicherheitsakteur werden, mit eigenen militärischen Kapazitäten und verbesserten Fähigkeiten in Krisenmanagement und Konfliktprävention – so oder so ähnlich lautet der Diskurs, der in den letzten Jahren sowohl auf EU- als auch auf Nationalstaatsebene dominant wurde. Dieser findet auch in der aktuellen Sicherheitsstrategie der EU, dem EU Strategic Compass for Security and Defense, seinen Ausdruck. Vor dem Hintergrund steigender geopolitischer Spannungen und des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine ist diese Haltung auch weitgehend nachvollziehbar. Das traditionelle Selbstverständnis der EU als "Friedensprojekt" und "Soft Power" gerät hingegen in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zunehmend ins Hintertreffen.

Bedeutet diese Hinwendung zu einem "robusten" Hard-Security-Zugang eine Abwendung von einer normativ geprägten außenpolitischen Haltung sowie vom Eintreten für sogenannte europäische Werte, insbesondere für Geschlechtergleichstellung, Antirassismus und Antidiskriminierung? In welcher Beziehung stehen Visionen der EU als Sicherheitsakteur zu ihrem Selbstverständnis als "global gender actor"– als normative Kraft für Frauenrechte, Inklusion und Emanzipation? Schließlich bekennt sich die EU zur UN Women, Peace, and Security Agenda und zu Gender Mainstreaming in allen Sicherheitsinstitutionen und Sicherheitsoperationen. Zuletzt hat der sicherheitspolitisch entscheidende Mitgliedsstaat Deutschland eine "Feminist Foreign Policy" beschlossen, die eine umfassende Berücksichtigung geschlechtsspezifischer und anderer Ungleichheitsstrukturen in allen Bereichen der Außenpolitik vorsieht.

Geschlechterfragen werden im Kontext der EU-Sicherheitspolitik oft als Nebenschauplätze klassifiziert. Dies entspricht aber nicht der Realität.
Foto: REUTERS/Yves Herman

Angesichts der sicherheitspolitischen Lage in Europa werden Geschlechterfragen dennoch weiterhin oftmals als Nebenschauplatz der "wirklich wichtigen" Themen der Verteidigungs- oder Rüstungspolitik abgetan. Dabei wird übersehen, dass gerade der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zeigt, wie zentral die Kategorie Gender für die Sicherheitsarchitektur in Europa ist. Der Krieg wird auf russischer Seite unter anderem mit dem Kampf gegen eine "deviante", vermeintlich westliche Geschlechterordnung inklusive nichttraditioneller Familienbilder und LGBTQ+-Rechte begründet. Der Krieg hat zudem enorme geschlechtsspezifische Auswirkungen, führt zu massiver sexueller Gewalt im Kriegsgebiet und unterschiedlicher Betroffenheit von Frauen und Männern durch Vertreibung, Flucht und Migration. Fragen nach einer geschlechtergerechten Nachkriegsordnung, Ahndung geschlechtsspezifischer Kriegsverbrechen sowie die Anerkennung von Kombattantinnen werden für einen nachhaltigen demokratiepolitischen Wiederaufbau entscheidend sein. Ein entschlossenes Vorgehen gegen Aggressoren wie Russland sollte daher Hand in Hand gehen mit der Analyse von Geschlechterverhältnissen und entsprechenden Maßnahmen in der Konfliktbearbeitung.

Selbstwahrnehmung als "männlich"

Die aktuelle Forschung¹ an der Central European University in Wien untersucht vor diesem Hintergrund, ob und wie die Kategorie Geschlecht in der EU-Sicherheitspolitik bedeutsam ist. Dabei wird Geschlecht nicht nur als Politikfeld im Sinne von Gleichstellungsfragen gesehen, sondern auch der Einfluss von Geschlechterstereotypen auf Identitätsbildung und Narrative in der EU-Sicherheitspolitik erhoben. Hier zeigt sich, dass die Selbstwahrnehmung der EU – wie sie etwa in ihren Sicherheitsstrategien zum Ausdruck kommt – sich immer stärker an traditionellen Merkmalen von Männlichkeit orientiert: Die EU habe sich in einer zunehmend bedrohlichen Welt als "robust", "hart", "stark" und "mutig" zu gerieren. Die Vergangenheit als Soft Power, die Multilateralismus, Dialog und Kooperation in den Vordergrund stellt, wird hingegen durch Assoziation mit Weiblichkeit als "naiv"‚ "(entscheidungs)schwach" und "fragil" abgewertet.

Diese Form von "gendering" hat auch Auswirkungen darauf, wie Fragen von Gleichstellung, geschlechtsspezifischer Gewalt und Frauenrechten in Konfliktsituationen in EU-Sicherheitsstrategien verhandelt werden. Maskulinisierte Sichtweisen auf Sicherheitspolitik verhindern zwar nicht, dass diese Themen aufgegriffen werden, aber sie führen zu einer Engführung, bei der in erster Linie die Viktimisierung von Frauen in anderen Teilen der Welt betont wird. Wenig berücksichtigt bleiben neben dem Geschlecht andere Ungleichheitsfaktoren wie Ethnizität oder Nationalität sowie die kolonialen Muster, in denen Rückschrittlichkeit und Patriarchat stets bei den "anderen" verortet werden. In den Hintergrund rücken dadurch nicht nur patriarchale Strukturen in EU-Institutionen und Gesellschaften, sondern auch die Handlungsmacht von Frauen in Konfliktsituationen und ihr Recht auf aktive Teilhabe und Repräsentation abseits des Opferstatus. Hinzu kommt, dass geschlechterpolitische Maßnahmen personell, institutionell und finanziell an das Ende der Prioritätenliste gedrängt werden.

Differenziertere Politik notwendig

Diese Forschungsergebnisse zeigen, dass Geschlechterbilder das Selbstverständnis der EU im Sicherheitsbereich prägen und dieses Selbstverständnis wiederum Auswirkungen auf die Möglichkeiten emanzipatorischer Geschlechterpolitik hat. Will die EU in Zukunft beides sein – globaler Sicherheits- und globaler Gender-Akteur – müssen EU-Sicherheits- und Geschlechterpolitik daher in ihren Zusammenhängen gedacht und untersucht werden. Dies ist nicht nur aus sicherheitspolitischer Perspektive notwendig, sondern auch zentral für die Stärkung der Legitimität der EU als globale Kraft, die sich nach wie vor in einer tiefen Krise befindet. (Saskia Stachowitsch, 3.5.2023)