Manche Menschen lieben den Adrenalinkick in der Achterbahn, andere wiederum bleiben lieber auf festem Boden. Die Erklärung dafür kann in körperlichen, aber auch psychischen Ursachen liegen.

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Auf 2.070 Meter Länge und in 52 Meter Höhe beschleunigt man von null auf 240 km/h in nur fünf Sekunden. Bei der schnellsten Achterbahn der Welt, die sich in einem Freizeitpark in Abu Dhabi befindet, müssen die Besucher sogar eine Schutzbrille tragen, um die Augen vor dem Fahrtwind und dem Sand in der Luft zu schützen. Was für manche nach richtig viel Spaß und Adrenalinkick klingt, kann für andere bereits beim Zusehen körperliches Unwohlsein auslösen.

Die klassische Achterbahn folgt im Grunde immer dem gleichen Prinzip: Zuerst wird man langsam auf eine gewisse Höhe transportiert, dann geht's im Megatempo Richtung Boden – oft gepaart mit mehreren Loopings, bei denen man abwechselnd kopfüber steht oder auf die Seite gedreht wird. Durch diese ungewohnten und extremen Bewegungen entsteht im Körper ein sogenannter Mismatch. Gerald Wiest, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Leiter der Schwindelambulanz am AKH in Wien, erklärt: "Für die körperliche Balance sind drei verschiedene Kanäle zuständig. Die Augen, die Gleichgewichtsorgane im Innenohr und die Informationen, die uns die Muskeln und Gelenke ans Gehirn senden." Geben alle drei ein einheitliches Bild ab, ist alles in Ordnung. Senden sie jedoch unterschiedliche Signale, kommt es zum Mismatch. Schwindel, Übelkeit oder Erbrechen können bei manchen Menschen die Folge sein.

Reisekrankheit spielt eine Rolle

Dabei ist es ganz unterschiedlich, wie man auf diesen Mismatch reagiert, weiß der Experte: "Es gibt Personen, denen bereits schwindelig wird, wenn sie bewegten Objekten nur zuschauen. Im Englischen wird der Begriff 'visually induced motion sickness' dafür verwendet." Wer darunter leidet, reagiert also bereits mit Schwindel oder sogar mit Übelkeit, wenn er eine fahrende Achterbahn nur anschaut. Eine etwas mildere Form ist die recht häufig vorkommende Reiseübelkeit oder auch "motion sickness" genannt. "Bei der Reisekrankheit bewege ich mich selbst, ich bin entweder im Auto, auf dem Schiff oder im Flugzeug." Die Augen nehmen diese Bewegung nicht oder nicht vollständig wahr – abgesehen vom Fahrer eines Autos, der auf die Straße schauen muss. Das erklärt auch, warum einem beim Selbstfahren nicht schlecht wird, als Beifahrer das jedoch schon passieren kann.

Ganz schlimm kann es im Bauch eines Schiffes werden. Alles bewegt sich, doch die Augen nehmen eine starre Kabine wahr. "Da kann es helfen, wieder an Deck zu gehen und gezielt auf den Horizont zu schauen", sagt Wiest. Die Augen nehmen dann die Bewegung des schwankenden Schiffes ebenfalls wahr, und der Mismatch kann ausgeglichen werden.

Drei mögliche Theorien

Aber zurück zur Achterbahn. Warum es hier zu Schwindel bis hin zu Übelkeit kommen kann, darüber sind sich Fachleute nicht ganz einig. Laut dem Schwindelexperten gibt es drei mögliche Theorien dazu: "Wir sind aus evolutionärer Sicht nicht für solche extremen Bewegungen gemacht. Vor allem ein schnelles Rauf und Runter, bei dem man gleichzeitig gekippt ist, kann unser System überfordern." Alle Sinne, die für das Gleichgewicht zuständig sind, werden überstimuliert.

Eine andere Theorie besagt, dass durch die extremen Kräfte, die auf den Körper einwirken, eine Art Schutzreflex aktiviert wird. "Auch diese Theorie ist evolutionär erklärbar. Wenn man verdorbene Lebensmittel isst, schützt sich der Körper vor diesen toxischen Stoffen, indem Brechreiz und starke Müdigkeit ausgelöst werden. Es kann sein, dass auch die Achterbahnfahrt bei manchen Menschen diesen Schutzreflex auslöst."

Ebenfalls denkbar ist, dass die Position des Gleichgewichtszentrums im Gehirn ein Rolle spielt. Der Experte sagt: "Das Gleichgewichtszentrum befindet sich ganz nah am Brechzentrum. Es könnte hier zu einer Proaktivierung kommen. Sprich, wenn uns durch die Bewegungen schwindelig wird, könnte das auch gleichzeitig einen Brechreiz auslösen."

Auch Kinder betroffen

Nun gibt es aber die Menschen, die gar nicht genug von Höhe und Schnelligkeit bekommen können, und die, die lieber am Boden bleiben und die Zuckerwatte genießen – obwohl alle Menschen einen Gleichgewichtssinn haben. Wie kann das sein? "Einige interessante Studien deuten darauf hin, dass es genetische Faktoren sind, die diese Unterschiede ausmachen. Studien an eineiigen Zwillingen etwa sprechen dafür, dass die Reisekrankheit vererbbar sein könnte."

Zusätzlich gibt es verschiedene Krankheitsbilder, die mit der Reisekrankheit in Beziehung zu stehen scheinen. Darunter fällt vor allem die vestibuläre Migräne. Zu den pochenden Kopfschmerzen der Migräne kommt es zusätzlich zu Schwindelsymptomen, die fälschlicherweise häufig auf den Kreislauf zurückgeführt werden, aber in Wahrheit zum Krankheitsbild dieser Migräne gehören. "Diese Patientinnen und Patienten regieren auch sehr stark auf visuelle Reize. Wenn etwa die U-Bahn einfährt, wird ihnen sofort schwindelig, und sie müssen sich hinsetzen. Verschiedene Studien zeigen Überlappungen der Reisekrankheit und der vestibulären Migräne", erklärt Wiest.

Aber nicht nur Erwachsenen wird manchmal übel, wenn der Körper zu stark bewegt wird, auch bei Kindern ist dieses Phänomen bekannt – obwohl man häufig das Gefühl hat, dass vor allem Kindern kaum ein Ringelspiel oder Karussell zu wild sein kann. Man nimmt an, dass in etwa 30 bis 40 Prozent aller Kinder bis zum Beginn der Pubertät an Reisekrankheit leiden. Diesen Kindern wird auch schnell beim Karussellfahren schwindelig und schlecht. Nur Babys und Kinder bis zum zweiten Lebensjahr bekommen keine Reisekrankheit. Der Schwindelexperte weiß warum: "Da Babys und Kleinkinder von Geburt an getragen und auch im Kinderwagen spazieren gefahren werden, sind sie vielen Bewegungen ausgesetzt. Es scheint ein evolutionärer Schutz zu sein, dass bei ihnen noch keine 'motion sickness' auftreten kann. In der Regel beginnt diese erst ab dem zweiten Lebensjahr."

Typsache

Die Gene und verschiedene Erkrankungen sorgen also dafür, dass manche Menschen lieber auf dem Boden bleiben. Aber auch wer keine körperlichen Beschwerden spürt, mag nicht unbedingt immer hoch hinaus oder sehnt sich nach dem Adrenalinkick. "Natürlich spielt auch der psychologische Faktor eine Rolle", erklärt Wiest. Der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint hat sich zu Lebzeiten genau diese Frage gestellt: Warum gehen manche Menschen gern in Vergnügungsparks und andere weniger gern? "Seiner Ansicht nach gibt es diejenigen, die es lieben, sich von der Erde zu lösen. Viele von ihnen mögen auch Bungee-Jumping, genießen den Adrenalinkick und haben insgesamt wenig Probleme, sich von etwas zu lösen. Und dann gibt es Personen, die nicht so gern in die Luft gehen. Oft haben sie wohl auch Probleme, sich von Beziehungen oder Dingen zu trennen." (Jasmin Altrock, 01.05.2023)