Schon wieder ein Shitstorm. Diesmal gegen "The Burning Shores", die jüngste Erweiterung zu Sonys erfolgreichem "Horizon"-Franchise. Dieses wurde von Fachmedien äußerst positiv bewertet, von selbsternannten Hardcore-Gamern (das braucht man nicht zu gendern) auf der Plattform Metacritic aber mit Negativbewertungen niedergebombt. Der Anlass: Das Spiel bietet am Ende die Option, dass Protagonistin Aloy eine andere Frau namens Seyka küsst.

Dieses Video zeigt den Skandalkuss bei Timestamp 32:00.
VGS - Video Game Sophistry

Grund genug für viele, die Erweiterung als "woken Müll" zu bezeichnen, und diese Entscheidung im Spieldesign zu kritisieren: Hier werde vom niederländischen Studio eine politische Agenda verfolgt, und die Szene wirke wie ins Spiel hineingepresst, heißt es. Beides Blödsinn.

Wer das Spiel bereits länger verfolgt, weiß: Die Erzählung einer lesbischen Liebe zwischen den beiden Charakteren kommt nicht urplötzlich, sondern ist Teil einer Entwicklung. Während es zwischen Heldin Aloy und ihren männlichen Gefährten nie geknistert hatte, war die Nähe zu Seyka spürbar. Auch Elisabet Sobeck, deren genetischer Klon Aloy ist, ist lesbisch. Und es gibt in dem Spiel immer schon die Möglichkeit, für seinen Charakter eine Pride-Gesichtsbemalung zu wählen.

Die freie Wahl

Zweitens wird niemandem irgendwas aufgezwungen. Denn Spielerinnen und Spieler haben im entscheidenden Moment des Games die Wahl, ob sie Seyka küssen oder dies lieber unterlassen. Aber das weiß man natürlich nur, wenn man das Spiel tatsächlich gespielt hat und nicht bloß homophoben Müll in irgendwelchen Internetforen ablässt. Erst denken, dann reden. Das schaffen nicht alle.

Es ist nämlich auch so, dass die "Horizon"-Spiele sogenannte Rollenspiele sind. Wenn ich mir ein solches Spiel kaufe, dann entscheide ich mich bewusst dafür, für ein paar Stunden in eine andere Rolle zu schlüpfen. Ich kann ein Zwerg oder ein Ork sein, ein intriganter Zauberer oder ein hinterlistiger Meuchelmörder. Ich kann mich als 40-jähriger, heterosexueller, weißer Mann aber auch bewusst dafür entscheiden, eine Frau zu sein. Oder homosexuell. Oder eine homosexuelle Frau.

Lernen von "Mass Effect"

"Horizon Forbidden West: The Burning Shores" macht es also schon ganz richtig, dass die Option zur lesbischen Affäre zur Verfügung steht. Auch wenn es – wie eine Rezensentin auf Metacritic anmerkt – wünschenswert wäre, dass mehrere Optionen zu Beziehungen angeboten werden. Damit eben jede Gamerin und jeder auf seine oder ihre Kosten kommt.

Perfekt umgesetzt wurde dies bei den Sci-Fi-Rollenspielen des "Mass Effect"-Franchises. Dort sorgte in konservativen US-Medien die Tatsache für Aufregung, dass man "Sex mit Aliens" haben kann.

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Das gibt natürlich eine gute Headline her, die Wahrheit ist aber: In den "Mass Effect"-Rollenspielen werden über zig Spielstunden hinweg tiefe Beziehungen zu den Charakteren des Spiels aufgebaut, von denen manche schließlich auch in sexuelle Szenen münden können, aber nicht müssen. Bei meinem ersten Durchlauf war ich noch ein asexueller Mann, in meinem zweiten führe ich als weiblicher Captain eine lesbische Beziehung mit einer Außerirdischen.

Ein schwuler Geralt?

Von diesem System – Beziehungen in verschiedenen Konstellationen nach den Vorstellungen des Gamers oder der Gamerin langsam aufbauen – können sich andere Publisher etwas abschauen und tun es teils auch. So ermöglicht auch das polnische CD Projekt Red in "Cyberpunk 2077", Geschlecht und sexuelle Orientierung frei zu wählen. Andere Spiele ermöglichen es bereits, nonbinäre Charaktere zu erschaffen.

Bei einem älteren Franchise der Polen war man übrigens noch weniger offen: Der Macho-Hexer Geralt vögelt sich im Blockbuster "The Witcher 3: Wild Hunt" zwar quer über den ganzen Kontinent, eine homosexuelle Beziehung zwischen ihm und dem Barden Dandelion ist aber – trotz der offensichtlichen Spannungen zwischen den beiden Charakteren – nicht möglich. Ein Manko?

Ich weiß schon, was sich die Fans jetzt denken: Das geht nicht. Denn "The Witcher" ist ja nicht bloß ein Computerspiel-Franchise, sondern eingebettet in einen Kanon aus Romanen, Comics und einer Netflixserie, und hier ist Geralt strikt heterosexuell. Dem ist allerdings wieder einmal zu entgegnen, dass Spiele gegenüber anderen Mediengattungen einen klaren Vorteil haben: Sie sind interaktiv und ermöglichen den Anbietern somit die Chance, die Menschen vor dem Bildschirm ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen.

Diese Chance sollten sie auch nutzen. Und zwar gar nicht aus irgendeiner Political Correctness heraus. Sondern weil Rollenspiele nun mal Rollenspiele sind. Und uns daher die Chance geben sollten, für ein paar Stunden jemand ganz anders zu sein. (Stefan Mey, 30.4.2023)