Ding Liren ließ sich nicht abschütteln. Seine Zähigkeit führte den Chinesen in Astana zum Weltmeistertitel. Jetzt hat er Gemüse um den Hals.

Foto: IMAGO/Grigory Sysoev

Jan Nepomnjaschtschi bleibt weiterhin nur Vizeweltmeister.

Sonntagnacht knallten in China die Sektkorken. Als "historischen Sieg" bezeichnete das kommunistische Parteiorgan "Volkszeitung" den Weltmeistertitel für Landsmann Ding Liren. Tatsächlich ist der 30-Jährige aus der Neun-Millionen-Einwohner-Stadt Wenzhou im Osten des Landes der erste Chinese, der sich in 137 Jahren WM-Historie zum Schachweltmeister der offenen Klasse krönt.

Zu Zeiten der Kulturrevolution noch verboten, gewann das Schachspiel in China spätestens mit dem WM-Titel der Frauen für Xie Jun im Jahr 1991 stark an Beliebtheit. 32 Jahre später dürfte Ding Lirens Sieg im kasachischen Astana dem Spiel in seiner Heimat noch einmal einen ordentlichen Popularitätsschub verpassen.

Denn Schachweltmeister ist kein inflationär verwendeter Begriff: In der 1886 mit dem Altösterreicher Wilhelm Steinitz begonnenen Reihe ist Ding, der das Spiel als Vierjähriger erlernte, seit Sonntag erst der siebzehnte allgemein anerkannte Spross. Durch seinen Sieg in der vierten Tiebreak-Partie über den Russen Jan Nepomnjaschtschi nach einem 7:7 in den Partien mit langer Bedenkzeit löste der Chinese Magnus Carlsen ab, der den WM-Titel zehn Jahre getragen und viermal erfolgreich verteidigt hatte.

Auf eine fünfte Titelverteidigung hatte Carlsen überraschend verzichtet. Wie der Norweger kürzlich zu Protokoll gab, sieht er im klassischen Schach zu wenig Möglichkeiten für kreatives Spiel und wünscht sich ein anderes WM-Format mit mehr Partien bei kürzerer Bedenkzeit.

Episches Match

Nach der gerade beendeten WM dürfte der Weltverband (Fide) allerdings kaum geneigt sein, solchen Reformvorschlägen Carlsens, der die Weltrangliste immer noch mit Abstand anführt, Gehör zu schenken. Denn Jan Nepomnjaschtschi und Ding Liren lieferten sich in Astana ein episches Match, das die Weltmeisterschaften unter Beteiligung Carlsens in puncto Kreativität und Unterhaltungswert klar in den Schatten stellte.

Ganze sechs der 14 klassischen Partien fanden einen Sieger. Dreimal ging Nepomnjaschtschi in Führung, dreimal glich Ding den Matchscore aus und erzwang damit ein Schnellschach-Tiebreak, in dessen vierter Runde er sich nach drei Remisen durchsetzte. Als "Nepo" die Niederlage realisierte, stieß er mit zitternder Hand im Schockzustand Figuren neben dem Brett um.

Die letzten Sekunden einer denkwürdigen Partie.
Chess Clips

Den Russen dürfte vor allem die zwölfte Partie des Wettkampfs noch länger im Schlaf verfolgen: Mit 6:5 in Führung liegend, sah Jan Nepomnjaschtschi in Gewinnstellung wie der sichere nächste Weltmeister aus – bis er die Partie mit ein paar erratischen Zügen herschenkte, Ding gewann und in der Folge das Tiebreak erreichte. Nach seiner Niederlage gegen Magnus Carlsen 2021 in Dubai muss Nepomnjaschtschi damit schon das zweite Mal als Verlierer einer Schach-WM die Heimreise antreten – wo er angesichts geäußerter Kritik an Russlands Invasion in die Ukraine ohnehin Anfeindungen ausgesetzt ist.

Dabei war es paradoxerweise einer der heftigsten Kritiker Nepos, Ex-WM-Kandidat und Kreml-Hofschranze Sergej Karjakin, der Ding Liren erst die Chance auf ein WM-Match verschaffte. Durch Corona-bedingte Reisebeschränkungen gehandicapt, hatte der nunmehrige Weltmeister zwischen 2020 und 2022 kaum an wichtigen Turnieren teilgenommen und war für das Kandidatenturnier 2022 in Madrid nicht qualifiziert.

Da Karjakin wegen kriegsverherrlichender Aussagen von der Fide gesperrt wurde, rutschte Ding kurzfristig nach. Platz zwei hinter Nepomnjaschtschi erreichte der Chinese in Madrid wiederum erst durch einen Schlussrundensieg auf Bestellung gegen Hikaru Nakamura. Und nur, weil Weltmeister Carlsen verzichtete, genügte dieser sonst undankbare zweite Platz Ding Liren zur Qualifikation für das Match in Astana – in dem seine Zähigkeit dem Chinesen nun zu einem lange unwahrscheinlichen WM-Sieg gereichte.

Kreative Köpfe

Unterstützt wurde Ding dort hinter den Kulissen vor allem von seinem Sekundanten Richárd Rapport. Der ungarische Topgroßmeister, der als einer der kreativsten Köpfe im zeitgenössischen Schach gilt, versorgte seinen Boss nicht nur mit ausgefallenen Eröffnungsideen. Rapport und Ding teilen, wie Letzterer freimütig berichtete, auch eine Vorliebe für Popmusik der 80er und betreiben gemeinsam englischsprachiges Konversationstraining.

Solche Ablenkungen dürften Ding Liren, der in Astana mit seiner schüchternen und doch offenen Art rasch die Sympathien gewann, durch schwierige Momente geholfen haben. "Dieses Match reflektiert das Tiefste meiner Seele", sagte der neue Weltmeister am Sonntag in einer ersten, fast konfuzianischen Reaktion auf seinen Erfolg. (Anatol Vitouch, 1.5.2023)