Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei einer Wahlkampfveranstaltung in Ankara Ende April.

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Wenn der Begriff Schicksalswahlen auf einen Urnengang zutrifft, dann auf jenen, zu dem am 14. Mai mehr als 64 Millionen Wahlberechtigte innerhalb und außerhalb der Türkei aufgerufen sind. Sie werden nicht nur ein neues Parlament und einen – neuen oder alten, das ist die große Frage – Präsidenten wählen. Sie stimmen über die zukünftige Ausrichtung eines Landes ab, das nicht nur ein Testfall für die Demokratie in der Region ist, sondern auch zentral für die Sicherheit Europas und des Nahen Ostens.

Viele Türken und Türkinnen verstehen diese Wahlen als Entscheidung über die Identität der Türkei: wie sie mit ihren Bürgern umgeht, wie das Verhältnis zwischen Religion und Staat zu regeln ist, für welche Werte dieser steht und wie er in der Zukunft seine Beziehungen nach außen regelt. Das sind auch für die EU und die Nato wichtige Fragen.

Richtung Autokratie

Recep Tayyip Erdoğan, der in der Folge des verheerenden Erdbebens von 1999 zuerst zum Premier und dann zum Staatspräsidenten aufstieg, ist – nachdem er in den ersten Jahren einen demokratischen Kurs zu befestigen schien – in Richtung Autokratie abgebogen. Wenn er dem US-Botschafter droht, weil dieser den Oppositionsführer trifft – eine ganz normale Aufgabe eines Diplomaten –, sind wir nicht weit entfernt von der Amtsauffassung eines Wladimir Putin. Fast noch bedenklicher ist die ein paar Tage alte Äußerung von Innenminister Süleyman Soylu, der die kommenden Wahlen mit dem Putschversuch von Juli 2016 vergleicht: Die Türkei solle "liquidiert" werden.

Die Opposition, deren Großteil sich zusammengerauft hat und Kemal Kılıçdaroğlu stützt, hat zum ersten Mal seit Jahren die Möglichkeit, Erdoğan zu schlagen. Die Umfragen sind sehr knapp, manche sehen den Amtsinhaber vorn. Es gibt zwei weitere Kandidaten fürs Präsidentenamt, die chancenlos sind, aber eine Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu erzwingen könnten. Je knapper ein Wahlsieg der Opposition oder auch nur eine Tendenz zu Kılıçdaroğlu ausfallen würde, umso größer würde die Gefahr, dass Erdoğan das Ruder mit anderen Mitteln herumzureißen versucht.

Neue Möglichkeiten nach dem Beben

Ausgerechnet das Erdbeben vom 6. Februar, das Korruption und Dysfunktionalität auf allen Ebenen offenlegte und der Reputation der Regierung schwer schadete, gibt dieser neue Möglichkeiten: Wie viele der Wahlberechtigten in oder aus den am schwersten betroffenen Gebieten es wirklich zur Wahl schaffen, wird sich erst am Wahltag erweisen. Darunter sind besonders viele Kurden und Kurdinnen, die Kılıçdaroğlu für einen Sieg brauchen würde.

Umfragen zeigen, dass das wichtigste Thema für die Menschen die katastrophale Wirtschaftslage, die galoppierende Inflation und Lira-Entwertung ist. Aber auch nach zwanzig Jahren zehrt Erdoğan vom Versäumnis früherer Politikergenerationen, sich um die sogenannten kleinen Leute zu kümmern. Um das zu begreifen, braucht man nicht einmal in die Türkei zu fahren, sondern nur die Wähler und Wählerinnen, die in der türkischen Botschaft in Wien die Stimme abgeben, zu befragen.

Dass sich die stets starke, autoritäre Vaterfigur nun plötzlich fragil zeigt – an die Magengrippe glaubt niemand –, könnte ihm sogar helfen. Sosehr manche das politische Ende Erdoğans herbeisehnen, so wenig können sich andere eine Türkei ohne ihn vorstellen. (Gudrun Harrer, 2.5.2023)