Auch als es am 1. Mai, dem ersten Todestag von Ivan Osim, einen Cupsieg zu feiern galt, trugen die Sturm-Graz-Fans das Bild des Jahrhunderttrainers vor sich her.

Foto: APA/ERWIN SCHERIAU

Bojan Mustur lebt und arbeitet in Doha, Katar.

Ein Wandgemälde von Ivica Osim in Belgrad.

Foto: Bojan Mustur

In Belgrad gibt es ein Wandgemälde von Ivica Osim. Unterhalb eines blauen Straßenschildes, auf dem in kyrillischen und lateinischen Buchstaben der Name der Straße steht, "Sarajevska", Sarajevo-Straße. Ich erinnere mich, dass das gleiche Foto im Panini-Album zur EM 1992 zu sehen war. Jener EM, an der Jugoslawien aus bekannten Gründen nicht teilnehmen durfte. Das Foto wurde im Stadion von Partizan gemacht.

Meine Kindheit habe ich in einer Straße namens "Cvijićeva" verbracht. Ich war erst fünf Jahre alt, als Ivica Osim, mein Onkel, jugoslawischer Teamchef wurde. Mein Bruder und ich wollten damals auch Fußballer werden. Wir trainierten intensiv dafür und träumten davon, eines Tages den Sprung in die Nationalelf zu schaffen. Eigentlich in jenen Tagen unser einziges Ziel. Ich wollte Torwart werden, der neue Tomislav Ivković. Das Vorbild meines älteren Bruders Ognjen war Darko Pancev, der Mazedonier, der später für Inter Mailand spielte.

Mein Vater, von Beruf Anwalt, hatte allerdings einen anderen Plan. Er steckte uns ins Wasserbecken, mit Hauben auf dem Kopf und gelben Mikasa-Bällen in den Händen. Dad tröstete uns und sagte, dass es auch im Wasserball echte Stars gäbe. Er meinte, dass wir auch in dieser Sportart beliebt und berühmt werden können. Doch wir haben ihm nicht geglaubt.

Fußball vor dem Haus

Wir lebten bis 1988 in der Cvijićeva-Straße auf Nummer 72. Vor dem Haus spielten wir ständig Fußball. Ich erinnere mich an jene Frühlinge und Sommer zurück, an eine Zeit, in der noch alles glücklich und ruhig zu sein schien. Und an ihn. Meinen Onkel. Er kam oft bei uns vorbei. Wir Kinder wussten, dass er einen wichtigen Job hatte, berühmt und immens beliebt war. Für gewöhnlich trug er einen hellbraunen oder beigen Trenchcoat.

Onkel Ivica Osim kam öfter auf Besuch.
Foto: Bojan Mustur

Genau so einen Mantel bekam ich später von meiner Tante Asa geschenkt. An meinem 19. Geburtstag, dem 2. Juli 2000. Ich hatte gerade an der Kunstuniversität zu studieren begonnen, und im Fernsehen lief an diesem Tag das EM-Finale zwischen Italien und Frankreich. In seinem Mantel erinnerte mich mein Onkel immer wieder an Monsieur Hulot aus dem Film Mon Oncle. Seine blonden Haare, aufgrund derer er den Spitznamen Švabo erhielt, seine tiefblauen Augen, das passte einfach. Mein Bruder und ich hatten Angst vor diesen Augen, auch weil wir trotz unserer kindlichen Naivität wussten, dass er sehr streng sein konnte. Wenn auch gerecht. Er war "ters", wie alle Trainer. "Ters", das ist das bosnische Wort für jemanden, der unzufrieden ist und immer etwas zu bekritteln hat.

Über uns hat er sich allerdings nie beschwert. Er hat uns immer angelächelt. Mein Onkel hatte einen langen und stolzen Schritt. Manchmal kam er mit einer Zigarette im Mundwinkel und brachte uns Sackerln mit den, so sahen wir das, weltbesten Pralinen mit.

Unser Traum vom Nationalteam lebte weiter. Wir durften bei all seinen Übungseinheiten mit der jugoslawischen Nationalelf in Belgrad dabei sein. Ich marschierte durch den Tunnel des Stadions Marakana neben "Pape" Sušić, dem "Blonden" Prosinečki, "Piksi" Stojković, "Dejo" Savićević, "Faruk" Hadžibegić, Tomislav Ivković, "Brko" Vulić, "Meša" Baždarević, Srećko Katanec und Boban. Noch heute höre ich das Klappern ihrer Fußballschuhe. So wurden mein Bruder und ich zu "Nationalspielern" Jugoslawiens.

Unser Traum hatte sich erfüllt. Niemand konnte uns aufhalten, nicht einmal unser Vater. Er saß stirnrunzelnd auf der Tribüne und forderte uns auf, zu ihm zu kommen, um ja nicht den Teamchef zu stören. Natürlich haben wir das nicht gemacht. Ivan Čabrinović, Co-Trainer unseres Onkels, gab uns immer einen Ball, mit dem wir neben den Zauberern der Nationalelf gekickt haben. Auch meinen Sprachschatz habe ich erweitert. Von nun an wusste ich, wer der "Chef" war, nämlich Osim, und wer der "Čiča", also der Alte, nämlich Verbandspräsident Mijlanić.

Dribbeln mit "Piksi"

Mein Lieblingshotel in meiner Kindheit hieß Jugoslavija. Es lag direkt an der Donau, nicht weit von ihrer Mündung in die Save entfernt. Im Jahr 1969 wurde es nach den Plänen des berühmten Zagreber Architekten Lavoslav Horvat erbaut. Es beherbergte Königin Elizabeth II., Richard Nixon, Jimmy Carter, Tina Turner und Neil Armstrong. Das Fußballteam war oft dort untergebracht – mein Bruder und ich daher auch. Der "Chef" gab uns Kindern am Abend frei, und wir durften nach Hause, im Gegensatz zu den anderen Spielern. Doch schon am nächsten Morgen waren wir wieder dort. Ungebeten betraten wir die Zimmer der Spieler, lachten über Spasić, weil er bereits in jungen Jahren seine Haare verlor. Wir spielten mit "Meša", "Piksi" zeigte uns Dribbeltricks, und Ivković schenkte mir seine Handschuhe.

Bojan Musturs Lieblingshotel. Es beherbergte Königin Elizabeth II., Richard Nixon, Jimmy Carter, Tina Turner und Neil Armstrong.
Foto: Bojan Mustur

Als mein Bruder und ich nicht auf der Passagierliste zur WM in Italien standen, waren wir geschockt und fassungslos, wir haben tagelang geweint. Er schuldete uns eine Erklärung, aber er war nicht da, sondern in Poreč. Wir fragten unsere Mutter, warum uns der "Chef" nicht mitnehmen wollte, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Tante Asa meinte, sie könne uns auch nicht helfen. Außerdem hätte sie jetzt einen Termin beim Friseur.

Ich erinnere mich an "Piksis" erstes Tor im Spiel gegen Spanien. Unsere Mutter hatte während der Partien ein Ritual: Sie ließ sich eine Wanne ein und badete, bis das Spiel vorbei war. Es war ihr einfach zu stressig. Aber alle zehn Minuten wollte sie wissen, wie es steht. Mein Bruder und ich saßen mit abgekauten Fingernägeln im Wohnzimmer. Heute frage ich mich, was möglich gewesen wäre, wenn im Viertelfinale gegen Argentinien nicht Hadžibe-gić, Brnović und Piksi im Elferschießen vergeben hätten.

Den Sommer nach der WM verbrachten wir in Kroatien. Unser Rimini war Vodice, ein kleiner Ort in der Nähe von Šibenik. Die ganze Familie war versammelt. Mama und Tante Asa haben eine ältere Schwester namens Ofelia. Sie war Direktorin des Hotels Punta und liebte Shakespeare. Wir alle mochten sie und verrieten ihr unsere kleinen und großen Geheimnisse. Mit dem Chef schwammen wir Kinder im offenen Meer weit hinaus, um ihm zu beweisen, wie mutig wir waren. Wir waren jetzt nicht mehr zusammen im Jugoslavija, sondern im Hotel Hyatt. Doch trotz aller Idylle spürte ich tief in meinem kindlichen Herzen, dass etwas nicht stimmte. Langsam wurde es dunkel, ein Land brach auseinander. Auch das Team schien zu zerfallen. Manche kamen einfach nicht mehr.

Neuer Mitbewohner

Zur selben Zeit überschlugen sich sämtliche Medien mit der Meldung, dass Švabo für Partizan unterschrieben hatte. Mein Bruder und ich bekamen einen neuen Mitbewohner. Der Klubpräsident hatte ihm eine luxuriöse Villa in Dedinje angeboten, er aber wollte lieber bei uns leben. In einfacher Umgebung. Da hatten wir ihm für Italien endgültig vergeben. Unser Onkel war immer ein bescheidener Mann, aufgeschlossen und leidenschaftlich. Ein Philosoph. Man muss sich vorstellen, wie mein Bruder und ich uns fühlten – der Teamchef von Jugoslawien und Partizan-Trainer zog bei uns ein! Doch wir Kinder bekamen auch einen Mathematik-, Physik-, Englisch- und Französischlehrer. In jenen Tagen war er unser Kosmos.

Den Jahreswechsel 1992 haben wir in Sarajevos Holiday Inn gefeiert. Ein trüber, verschneiter Tag. Mein Bruder und ich verbrachten den ganzen Tag in unserem Zimmer, um Filme mit Louis de Funes zu sehen und Comics von Alan Ford zu lesen. Es war das letzte große Familientreffen. Panzer aus Belgrad kamen Sarajevo immer näher. Schon im Frühling klingelte ständig das Telefon. Die Spieler fragten den Chef, ob sie bei der EM in Schweden spielen müssten, einige hatten bereits abgesagt. Ich hörte viele dieser Gespräche mit, oft kam ich deswegen zu spät in die Schule.

In Tränen aufgelöst

An seinem Geburtstag am 6. Mai schenkten wir dem Onkel sechs große Bücher voll mit Zeitungsartikeln, die mein Vater jahrelang gesammelt hatte. 16 Tage später, am 22. Mai, waren wir alle in Tränen aufgelöst. Niemand hatte seine Entscheidung geahnt. Nicht einmal mein Vater, der ihm sehr nahestand.

Dad chauffierte den Chef nach Terazije, zum Sitz des Fußballverbands. In der Annahme, es handle sich um eine ganz normale Pressekonferenz. Danach geriet unsere Welt aus den Fugen. An diesem Tag trat der Onkel als jugoslawischer Teamchef zurück, er sagte: "Es ist das Einzige, was ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen, was dort passiert." Mir war klar, dass er nun weggehen würde. Und so kam es auch. Ivica Osim setzte seine magische Fußballreise über Athen und Graz bis nach Japan fort. Heute lebt er in unseren Herzen weiter. Die Ausstattung der jugoslawischen Nationalmannschaft für die EM 1992 befindet sich immer noch im Kleiderschrank meines Vaters. Unberührt. (Mitarbeit: Nihad Bajramovic, Günter Kolb, Jana Baskarada, Fritz Neumann, 3.5.2023)