Ein Elchbulle steht am Rand eines Fichtenwaldes in Schweden.

Foto: IMAGO / blickwinkel / M. Woike

Wald, so weit das Auge reicht, der Boden ist im Fleckenmuster mit weißem Schnee bedeckt. Szenenwechsel, Sonnenlicht fällt zwischen den Baumstämmen auf den Waldboden, abseits davon passiert nicht viel. Wieder eine neue Einstellung, dieses Mal ist Wasserplätschern zu hören, und es geraten zwei Tiere vor die Linse, die aussehen wie Kanadagänse. Einen kurzen Moment später sind sie dem Kamerasichtfeld schon wieder entschwommen. Es sind ruhige Naturaufnahmen ohne Voiceover aus der Region um Kullberg im nördlichen Teil Schwedens, die derzeit 24 Stunden am Tag live auf "SVT Play" der schwedischen öffentlich-rechtlichen Fernsehgesellschaft zu sehen sind.

Mit etwas Glück erwischt man die Stars der Sendung: Elche. Die sind nämlich gerade am Weg zu ihren Sommerweiden. Ein besonderes Highlight dabei ist die Überquerung des Flusses Ångermanälven. "Wir zählen die Schwimmer, das ist die Idee der Show", erklärt Johan Erhag, Projektleiter von "Den stora älgvandringen", der großen Elchwanderung. Er ist – wie sollte es anders sein – gerade auf dem Weg nach Kullberg, als ihn DER STANDARD für ein Gespräch erreicht. Als er angekommen ist, sagt er: "Jetzt stehe ich hier am Fluss und schaue auf die andere Seite, aber ich kann im Moment keine Elche sehen."

Mehr als 30 Kameras sind an einer Wanderroute der Elche positioniert, einige Tiere sind auch mit GPS ausgestattet. Wer möchte, kann die Übertragung seit 23. April und ursprünglich bis 7. Mai rund um die Uhr online verfolgen. Aufgrund des späten Frühlings wird die Sendezeit verlängert, wie Erhag mitteilt. Die Show werde noch bis zum 10. Mai um 23 Uhr weiterlaufen.

Zwölf Millionen Stunden

Ungeduldige können auf bereits markierte Highlights klicken. So erscheint ohne Umwege die Aufnahme eines Elchs, der bei Sonnenschein durch den Wald spaziert, aber auch Aufnahmen anderer Tierarten. Typischerweise sind neben Elchen auch Füchse, Adler, Schwäne, Biber, Otter und Auerhühner zu sehen. Dieses Jahr ist laut Erhag auch ein Bär dabei gewesen. Im vergangenen Jahr wurde der 24-Stunden-Livestream nach dessen Angaben zwölf Millionen Stunden online verfolgt. Im Fernsehen wird die Show zwischen Mitternacht und drei Uhr nachmittags übertragen, und auch im Nachbarland Finnland zeigt ein Sender den Stream. Doch wer sieht sich stundenlang Naturaufnahmen an und warum?

Fans des Internet-Livestreams können sich in einem Chat austauschen, alle paar Sekunden poppt eine neue Nachricht am Bildschirmrand auf. Bären-, Baum- und Elch-Emojis fliegen über den Screen. Es gibt hier auch reichlich Zusatzmaterial: ein Bingo, eine Karte mit den Kamerapositionen und eine Vogelliste. Das Gefühl macht sich breit, hier auf eine richtige Community zu stoßen. Auf eine Anfrage im Chat, ob jemand etwas über die Faszination für die Sendung erzählen möchte, melden sich prompt mehrere Menschen per Mail zurück.

Elch-Sichtung unter dem Jubel der Zuseherinnen und Zuseher.
Foto: Screenshot/SVT Play

Soziales Elch-Watching

Eine davon ist die 63-jährige Llewellyn Jones. Sie kommt ursprünglich aus England und ist 1994 nach Göteborg gezogen, wie sie schreibt. "Ich glaube, dass dieses Programm eine sehr geschätzte Möglichkeit für einsame oder isolierte ältere Menschen ist, um ein bisschen angenehme Gesellschaft zu finden." Den Umgangston im Chat beschreibt sie als "im Allgemeinen sehr freundlich", und es geht laut Jones auch gar nicht immer um die Elche. "Die Kommentare beziehen sich keineswegs nur auf Tiere, sondern oft auch auf das alltägliche Leben, etwa 'Ich werde jetzt eine Tasse Kaffee trinken' oder 'Meine Katze hält meine Füße warm'." Sie persönlich schaue die Sendung, weil sie fasziniert davon sei, die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum und so nahe zu beobachten und zu hören.

Auch Lasse Näsström hat sich auf den Chataufruf gemeldet. Der Fotograf und Videograf geht davon aus, dass die Sendung für viele Leute entspannend ist, und erzählt in seiner Nachricht: "Ich bin 56 Jahre alt, meine Mutter ist 86 Jahre alt. Wir verfolgen beide die Sendung und diskutieren oft darüber, was passiert."

"Slow TV" als Trend

Der Livestream werde auch in Schulen und Kindertagesstätten geschaut, sagt Projektleiter Erhag. Er sieht die Sendung als schönen Kontrast, zu allem, was sonst angesehen wird: "Wir haben unsere Smartphones und die sozialen Medien. Alles ist gestresst und sehr intensiv und hier ist es genau andersherum."

Ursprünglich sei man für eine Natursendung in Kullberg gewesen und habe dort ein Paar getroffen, das seit Jahren die Elche zählte, die den Fluss überquerten, sagt Erhag. "Wir haben versucht, Filmmaterial von den schwimmenden Elchen zu bekommen, aber haben es für diese Sendung nicht geschafft", erinnert er sich. Zur selben Zeit hätten sie mit dem Rundfunk NRK aus Norwegen – wo entschleunigtes Fernsehen schon vor einigen Jahren beliebt war – an dem "Slow TV"-Konzept gearbeitet, und die Idee begann zu wachsen.

Entschleunigung mit einem Elch.
Foto: Screebshot/SVT Play

Doch lohnt sich der Aufwand finanziell für den Fernsehsender SVT? "So funktioniert SVT und öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht, denn wir sind nicht dazu da, Geld zu verdienen", sagt Erhag. Sie seien von den Menschen, die in Schweden leben, finanziert und würden Programme für die schwedische Bevölkerung machen.

Aktuell läuft die fünfte Ausgabe der Show, das Material, das dabei entsteht, wird auch für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Am 3. Mai hat der erste Elch während der diesjährigen Sendung den Fluss überquert. Im vergangenen Jahr zählte der Livestream insgesamt 67 Elche, die dies taten, es dürften also noch mehrere erwartet werden. Oder wie Zuseher Lasse Näsström es formulierte: "Das Tempo ist langsam, und du weißt nicht, was passieren wird. Wirst du sie schwimmen sehen?" (Christina Rebhahn-Roither, 6.5.2023)