Man kann auch in Spanien Pech haben und an einen Irren geraten. Also an jemanden, der beim Überholen einer Radfahrerin oder eines Radfahrers zehn Zentimeter Seitenabstand für ausreichend hält. Der in engen Gassen dicht auffährt, den Motor aufheulen lässt und sich vorbeidrängt – um eine Kreuzung weiter wieder überholt zu werden. Ja, auch in Spanien gibt es solche Patienten. Und der Kontakt mit ihnen ist potenziell lebensgefährlich.

Hohe Strafen in Spanien

Nur gibt es da einen kleinen, aber relevanten Unterschied zu Österreich und Deutschland. Eigentlich zwei. Zum ersten: In den Radlerparadiesen auf den Kanaren und den Balearen, dem Vernehmen nach aber längst auch auf dem Festland, gibt es diese Sorte irrer Autofahrer seltener als bei uns. Ihre Zahl sinkt zudem. Und: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Drängler in einem Mietwagen sitzt – also Tourist ist –, ist hoch. Weil die Spanier schon seit 2017 wissen, dass es teuer kommen kann, Radfahrerinnen und Radfahrer mit weniger als eineinhalb Metern Seitenabstand zu überholen.

In Spanien funktioniert das mit dem seitlichen Abstand beim Überholen ganz gut.
Foto: Tom Rottenberg

"Richtig teuer", sagt ein Journalist, den wir bei einem Radtrip auf Gran Canaria kennenlernen. "Das kostet bis zu 1500 Euro. Im Wiederholungsfall ist der Führerschein weg." Nachsatz: "Alles andere ist nämlich sinnlos." Die Mindeststrafe, so schreiben Mietwagenverleiher auf ihren Webseiten, beträgt 500 Euro. Und sie weisen darauf hin, dass Radfahrer in Spanien nebeneinander fahren dürfen, in Kreisverkehren und Kreuzungen Vorrang haben – und Autos Fahrradkolonnen nur im Ganzen überholen dürfen. "Natürlich nur, wenn man die Radfahrer nicht behindert oder in Gefahr bringt."

Das gilt nicht nur für Gran Canaria. Der vor vier Jahren nach Mallorca ausgewanderte Wiener Daniel Harari bestätigt die strengen Regeln auch für "Malle": "Die Guardia Civil nimmt ‚Ley de Tráfico‘, die Straßenverkehrsordnung, sehr ernst: Da geht es um Menschenleben." Darum seien die Strafen auch so hoch. "Seit sich herumspricht, dass man damit nicht mehr durchkommt, wird Radfahren sicherer." Nicht nur für Sportlerinnen und Sportler, auch im Alltag ermutige das. Natürlich könne man auch in Spanien als Radfahrer Pech haben. "Aber die Wahrscheinlichkeit sinkt."

Vergleich zu Österreich

Geht es nach dem Buchstaben des Gesetzes, müsste das auf Österreichs Straßen auch so sein: Mit Oktober 2022 trat hierzulande eine Novelle der Straßenverkehrsordnung in Kraft, die beim Überholen von Radfahrenden einen seitlichen Mindestabstand von eineinhalb Metern vorschreibt. Der österreichische Gesetzgeber folgte damit dem deutschen Vorbild. Dort wurde der seitliche Mindestabstand im April 2020 mit 1,5 Metern festgeschrieben. Beim Überholen von Kindern, auf Freilandstraßen oder bei "höheren Geschwindigkeiten" sind zwei Meter vorgeschrieben. Mindestens.

Doch Österreich hinkt nicht nur hinterher, sondern bleibt dem treu, was Klaus Robatsch, der Kopf des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV), unter dem Sammelbegriff "nationale Rasermentalität" zusammenfasst. Es gibt Ausnahmen – zulasten der Sicherheit der Radfahrenden: Sobald der überholende Autofahrer langsamer als 30 km/h fährt, dürfen eineinhalb Meter nämlich unterschritten werden. "Unsere Forderung: Immer und überall – und aus die Maus", betont Robatsch.

Mit weniger als zehn Zentimeter Abstand überholten 2021 einzelne
Autofahrer Radfahrer. Inzwischen gibt es ein neues Gesetz, und im Sommer
wird wieder gemessen.
Foto: iStockphoto

Die "massive Problematik" der 30-km/h-Ausnahme erklärt dann Roland Romano de facto wortgleich wie Robatsch. Der Sprecher der Radlobby verweist darauf, dass diese Einschränkung als "gilt nicht in Tempo-30-Zonen" gelesen und mitunter auch kommuniziert werde. Doch während sich kaum ein Autofahrer an Tempo-30-Zonen hält, sind die meisten überzeugt, dass das Gesetz in 30er-Zonen nicht gelte – egal, wie schnell sie fahren.

Zu schmale Straßen

Mehr noch: Auch dass bei weniger als 30 km/h ein seitlicher Sicherheitsabstand ähnlich dem einst in der Fahrschule gelehrten (ein Meter plus zehn Zentimeter pro zehn km/h) gilt, halten viele dann für obsolet. Denn laut Novelle entfällt die 1,5-Meter-Regel, sobald der Radler auf einer Radspur oder einem Radstreifen rollt. Romano gibt Nachhilfe: "Auch wenn das rechtlich dann kein Überholen, sondern ein Vorbeibewegen ist, schreibt die StVO seit jeher vor, dass das nur unter Wahrung der notwendigen seitlichen Sicherheitsabstände erlaubt ist." Auch bei unter 30 km/h gehe die Judikatur da von 70 Zentimetern als Minimum aus. Dass man in städtischen Gassen Radfahrende dann kaum bis nicht überholen kann? Romano und Robatsch zucken mit den Schultern: "Ja, das ist dann eben so."

Wobei das beste Gesetz nichts taugt, wenn es nicht durchgesetzt oder kontrolliert wird. Die Landespolizeidirektion Wien betont jedoch auf STANDARD-Anfrage: "Kontrollen finden im Rahmen des Streifendienstes und ihm Zuge diverser Schwerpunktkontrollen statt."

Keine Messung von der Exekutive

Freilich: Wie oft und wo da bisher Verkehrssünder erwischt wurden und wie hoch die Strafen bisher waren, bleibt unbeantwortet: "Eine Statistik zur Ahndung des Deliktes führen wir nicht." Es gibt da nämlich ein Problem: "Messgeräte hat die Landespolizeidirektion Wien keine."

Wer Antworten auf Anfragen zu lesen gelernt hat, liest hier eventuell heraus, was Radlobbyist Romanos Fazit aus der Kommunikation mit Polizei und Innenministerium ist: Das Thema ist noch nicht angekommen. Auf die vor Monaten deponierte Radlobby-Anregung, Bewusstseinskampagnen zu lancieren wie dereinst bei der Rettungsgasse, gab es bisher noch keine Reaktion.

Kontrollen und Kampagnen

Ungehört verhallen auch Hinweise auf Best-Practice-Beispiele: Britische Polizeistationen etwa kommunizieren proaktiv Schwerpunktaktionen. Die Ansagen der Behördenvertreter zu Gefahrenpotenzial und dadurch bedingte Strafhöhen werden aufgrund der drastischen Worte medial gern übernommenen.

Auch im Nachbarland Deutschland: Dort setzt sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann gerade persönlich in einer Abstandskampagne ein: "weil viele unterschätzen, wie weit ein Meter fünfzig eigentlich ist".

Da aber die Messgeräte in Wien fehlen, steht die Behörde der Hauptstadt vor einem Problem. Erstaunlicherweise hat aber die Salzburger Polizei schon 2017 Seitenabstände gemessen. Langweilig wurde den Beamten da nicht – auch bei einem zweiten, zumindest regional medial sehr beachteten Durchgang 2019.

Messen geht doch

Die Gerätschaften zum Messen sind nämlich längst keine Raketenwissenschaft mehr. In etlichen Ländern Europas werden schon sogenannte "Open-Bike-Sensoren" eingesetzt. Auch in Österreich – nur eben nicht amtlich.

Das Citizen-Science-Projekt 1meter50.at stellte bei 2600 Messungen in Vorarlberg und Wien fest, dass zwei Drittel der Überholenden nicht den vorgeschriebenen Abstand einhalten. Regional lagen die Werte bei über 90 Prozent – obwohl das Messgerät ohnehin autofreundlich misst: Der am Fahrradlenker montierte Sensor erkennt nur die Flanke, nicht den Seitenspiegel. De jure gilt aber Letzterer.

Wenig Hoffnung

Messungen, die das KfV zwischen Herbst 2021 und Frühjahr 2022 machte, also vor dem Inkrafttreten der Novelle in Wien, Salzburg und dem Burgenland, brachten die gleichen Ergebnisse: Zwei Drittel pfeifen zu knapp vorbei. Jeder Vierte schafft nicht einmal einen Meter. Einer von 100 Autofahrern bleibt unter 40 Zentimetern – und selten, aber doch glaubt jemand, dass weniger als zehn Zentimeter ausreichen.

Ob die seit Oktober gültige Novelle da etwas verändert hat, will das KfV im Sommer eruieren. Optimistisch ist KfV-Chef Robatsch nicht: "Ich gehe davon aus, dass es kaum Unterschiede geben wird." Wieso? Robatsch zeigt nach Spanien: "Zuerst geht es um die Wahrscheinlichkeit, überhaupt erwischt zu werden. Dann kommt die Strafhöhe. Und zuletzt wirkt Prävention: Der Führerscheinentzug wirkt Wunder – aber nur, wenn sich herumspricht, dass man es ernst meint." (Tom Rottenberg, 7.5.2023)