Der Einmarsch Russlands in der Ukraine hat 2022 zu Rekordpreisen bei Energie und zum Ruf nach mehr Versorgungssicherheit geführt. Im Bild der Bau einer Gaspipeline auf dem Balkan.

Foto: AFP / Nikolay Doychinov

Sie nimmt lieber den Zug als das Flugzeug, auch von London nach Wien. Das Research Center for the History of Transformations (Recet) hat Helen Thompson zu einem Vortrag eingeladen. "Ich versuche, Fliegen zu vermeiden", sagt die Cambridge-Professorin.

STANDARD: Europa ist trotz Gaskrise erstaunlich gut über den Winter gekommen. Überrascht?

Thompson: Einerseits war es überraschend, andererseits auch wieder nicht. Einige europäische Länder waren früher als andere von russischem Pipelinegas abgeschnitten und mussten rasch Ersatz finden. Wenn man sich die Gasflüsse genauer ansieht, stößt man dann auf weitere interessante Details.

STANDARD: Zum Beispiel?

Thompson: Dass die Exporte von verflüssigtem Erdgas aus Russland zuletzt signifikant gestiegen sind. Das hat mit dem neuen Verladeterminal an der baltischen See (Ust-Luga im Gebiet Leningrad, Anm.) zu tun, den Russland in Betrieb genommen hat.

STANDARD: Wer waren die größten Abnehmer?

Thompson: Spanien und Frankreich.

STANDARD: Die Sicherstellung der Energieversorgung ist von Haushalten und Industrie teuer erkauft worden?

Thompson: Zweifelsohne. Andererseits hat Europa sein Gasproblem an arme Länder in Asien ausgelagert. Pakistan war der größte Verlierer.

STANDARD: Inwiefern?

Thompson: Europa hat Pakistan und anderen armen Ländern LNG (Liquified Natural Gas, verflüssigtes Erdgas, Anm.) vor der Nase weggeschnappt, indem höhere Preise gezahlt wurden. Pakistan hatte zwar Langfristverträge für LNG-Bezüge. Die wurden aber aufgekündigt, das Gas ging an den Meistbietenden.

China, das sei die große Unbekannte im kommenden Winter, sagt Helen Thompson, die über den Einfluss von Energie auf die Politik forscht. Braucht das Land wieder mehr Gas als im vergangenen Jahr?
Foto: robert newald

STANDARD: Die Konsequenzen für Pakistan?

Thompson: Die humanitäre Katastrophe, die es in dem Land schon länger gab, hat sich weiter verschärft. Pakistan konnte teilweise aber von Gas auf Kohle switchen.

STANDARD: Welche Rolle hat China gespielt, und welche Rolle wird das Land bei der Energiebeschaffung für den kommenden Winter haben?

Thompson: Das ist die große Frage. Haben die Europäer China preislich überboten, oder hat China aufgrund der Null-Covid-Politik und der gebremsten Wirtschaftsleistung schlichtweg weniger Gas benötigt? Die politisch Verantwortlichen in Peking haben jedenfalls rechtzeitig erkannt, dass Europa LNG in großen Mengen einkaufen würde und dass China etwas anderes einsetzen sollte als Gas – Kohle. Fakt ist, dass China heuer ein deutlich stärkeres Wirtschaftswachstum hat als 2022.

STANDARD: Was erwartet Europa im Winter?

Thompson: Es wird schwieriger als im vergangenen Jahr. 2022 ist noch bis Juni Gas über Nord Stream 1 gekommen, bis etwa April auch noch über die Pipeline Yamal Europe. Heuer muss das gesamte Gas ersetzt werden, das früher über diese zwei Routen nach Europa geströmt ist. Vor allem für Deutschland wird das eine große Anstrengung. Wenn China wieder mehr Gas auf dem Weltmarkt einkauft, wird die Herausforderung noch größer.

STANDARD: Kann eventuell aus den USA mehr LNG nach Europa kommen?

Thompson: Die USA haben im Vorjahr getan, was sie konnten. Ich denke nicht, dass sie kurzfristig wesentlich mehr machen können. Zuletzt sind in den USA 14 neue Verflüssigungsterminals genehmigt worden. Ende 2024 stehen die ersten davon bereit. Bis dahin gibt es einen Engpass.

STANDARD: Haben die USA genug Gas, das sie mittels Fracking, sprich hydraulischen Aufbrechens von Gestein, aus dem Boden holen können?

Die USA haben einen Engpass bei den Verladeterminals für LNG zumindest noch bis Ende 2024, sagt Helen Thompson.
Foto: robert newald

Thompson: Gas schon. Es gibt aber zunehmend Widerstand von US-Bundesstaaten, die sich gegen Pipelines zum Abtransport wehren.

STANDARD: Und Katar oder Algerien?

Thompson: Katar weitet gerade seine Exportkapazitäten stark aus. Algerien als weiteres wichtiges Gasexportland sieht Chancen, seine Verkäufe in Richtung Europa zu vergrößern, insbesondere nach Italien. Zu Spanien ist das Verhältnis wegen des Konflikts in der Westsahara angespannt. Spanien hat zuletzt weniger Gas aus Algerien bekommen und sich wahrscheinlich deshalb mehr mit russischem LNG eingedeckt. Man sieht, Geopolitik spielt nicht nur bei Ukraine/Russland eine Rolle, sondern auch im westlichen Mittelmeer.

STANDARD: Katar und andere LNG-Lieferanten pochen auf Langfristverträge und führen hohe Investitionskosten ins Treffen. Europa will mittelfristig aber ganz raus aus Gas. Das geht doch schwer zusammen, oder?

Thompson: In dem Fall ist es wohl so, dass der Anbieter die Regeln bestimmt, nicht der Nachfrager.

Nicht moralisch falsch, aber geopolitisch töricht. So sei die damalige Unterstützung für den Bau derGaspipeline Nord Stream 2 zu werten, sagt Professorin Helen Thompson, die in Cambridge lehrt.
Foto: robert newald

STANDARD: Gehen wir zurück in die Zeit, als in Deutschland noch Angela Merkel (CDU) Bundeskanzlerin war und dem Bau der Pipeline Nord Stream 2 zugestimmt hat. War das ein Fehler?

Thompson: Es war nicht moralisch falsch, es war aber geopolitisch töricht, weil man sich ausrechnen konnte, dass es darüber eine Auseinandersetzung mit den USA geben würde. Aus rein wirtschaftlichen Überlegungen war die Unterstützung für Nord Stream 2 durch Deutschland verständlich. Russisches Erdgas war billiger als LNG, der Transit durch die Ukraine aber nicht hundertprozentig sicher. Die Reaktionen in der Ukraine und in Polen darauf hat man in Berlin wohl unterschätzt.

STANDARD: Was sind die Lehren aus der Krise?

Thompson: Dass man sich nie mehr so abhängig machen darf von einem Land wie bei Gas von Russland. Es war von Deutschland ein schwerer Fehler, dass man nicht frühzeitig zumindest einen LNG-Terminal gebaut hat als Signal an Russland – seht her, wir haben auch eine Alternative. Das hat sich gerächt. (Günther Strobl, 7.5.2023)