Nach 20 Jahren an der Macht tut sich Präsident Erdoğan schwer, die Massen zu begeistern. Bei Veranstaltungen von Kemal Kılıçdaroğlu herrscht hingegen Euphorie.

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Neben der Bühne glitzert das Meer in der Nachmittagssonne. Davor erstrecken sich – soweit das Auge reicht – eine schier unendliche Menschenmenge und ein roter Fahnenteppich. Als Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu nach einer sehr emotionalen Rede erschöpft das Mikrofon aus der Hand gibt, ertönt aus den Lautsprechern sein Slogan, der längst zum Leitmotiv der Oppositionskampagne geworden ist: "Herşey çok güzel olacak" – "Alles wird sehr schön werden".

Zigtausende Anhänger auf dem Platz am Meer in Izmir stimmen ein, es scheint, als würde hier bereits der Sieg gefeiert. Rundum strahlende Gesichter, die Leute hüpfen zum Sound aus den Lautsprechern hoch und runter, die Menge ist wie elektrisiert. Als am Ende des langen Nachmittags dann endlich auch der Kandidat selbst, Kemal Kılıçdaroğlu, auf die Bühne tritt, ertönt noch einmal ein Aufschrei auf dem Platz.

Der Präsidentschaftskandidat der Opposition, noch vor wenigen Wochen von vielen als Langweiler abgetan, wird gefeiert wie ein Popstar. Fast egal, was er sagt, ob er den Erstwählern eine glänzende Zukunft verspricht oder behauptet, man werde das von der aktuellen Regierung "gestohlene Geld wieder zurückholen": Jeder Satz wird begeistert beklatscht. Die Botschaft von Izmir ist deutlich. Der Kandidat und seine Anhänger haben keinen Zweifel, dass sie am 14. Mai die "Schicksalswahl" der Türkei gewinnen werden.

Umfragen sehen Kılıçdaroğlu vorne

Es gibt gute Gründe, dass diese Überzeugung realistisch ist. Die Umfragen sind gut, nahezu bei allen Instituten liegt Kılıçdaroğlu vor Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der für eine weitere Amtszeit kämpft. Auch der Augenschein spricht für Kılıçdaroğlu. Während Erdoğan erstmals Mühe hat, die Plätze zu füllen, sind jetzt bei den Wahlveranstaltungen von Kılıçdaroğlu und den anderen Oppositionspolitikern so viele Leute wie nie in den vergangenen 20 Jahren. Nie war die Opposition so selbstbewusst und siegessicher wie in diesen Tagen.

Sicher, die Metropole an der Ägäis ist seit Jahrzehnten eine Hochburg der Opposition. Doch auch in anderen Städten zeigt sich, dass immer mehr Menschen nach zwei Dekaden Erdoğan die Nase voll haben. Dennoch war das letzte Wochenende noch einmal eine wichtige Demonstration der Einheit. Alle Parteiführer der Sechserkoalition, einschließlich der Frontfrau der İyi Parti, Meral Akşener, die noch unmittelbar vor der Nominierung von Kılıçdaroğlu Zweifel an seiner Eignung geäußert hatte, stiegen in Izmir auf die Bühne und unterstützten lautstark ihren Favoriten. Die demonstrative Einigkeit und Unterstützung für Kılıçdaroğlu ist so deutlich, dass sie von niemandem mehr in Zweifel gezogen wird.

Es gibt nur eine Ausnahme, die aber möglicherweise dazu führt, dass Kılıçdaroğlu nicht im ersten Wahlgang gewinnt. Der frühere CHP-Politiker Muharrem İnce, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 noch der Kandidat der CHP, tritt jetzt gegen Kılıçdaroğlu als einer von vier Bewerbern um die Präsidentschaft an.

Alle Versuche im Vorfeld, İnce von einer Kandidatur abzuhalten, scheiterten. Muharrem İnce war nach der letzten verlorenen Wahl im Streit um den Parteivorsitz der CHP Kılıçdaroğlu unterlegen und anschließend aus der Partei ausgetreten. Ein halbes Jahr vor den jetzigen Wahlen tauchte er dann wieder aus der Versenkung auf und kündigte eine eigene Kandidatur an. Viele Beobachter gehen davon aus, dass İnce von Erdoğans AKP finanziell unterstützt wird in der Hoffnung, dass er Kılıçdaroğlu entscheidende zwei bis drei Prozentpunkte abnehmen könnte.

Auf dem Platz in Izmir spielen diese Überlegungen jedoch keine Rolle. Die Emotionen sind wichtiger als taktische Spiele. Alle Wut, alle Verzweiflung und alle Demütigungen der vergangenen 20 Jahre kulminieren in einer einzigen Forderung: Erdoğan muss weg! Sicher, es geht um eine bessere Wirtschaftspolitik, die Rehabilitation der Justiz, um Recht, Gesetz und Demokratie, wie immer wieder skandiert wird. Doch erst einmal muss die Alleinherrschaft des amtierenden Präsidenten überwunden werden.

Karthago muss fallen

Schon vor Wochen sagte einer der wichtigsten Journalisten der Oppositionszeitung Bir Gün, es dürfe nur ein Ziel geben, dem sich alle unterordnen müssen: "Karthago muss fallen, Karthago muss fallen." Damals war noch nicht klar, wer letztlich Präsidentschaftskandidat der Opposition werden würde. "Egal wer nominiert wird, alle müssen ihn unterstützen. Eine andere Chance haben wir nicht mehr", schrieb Bir Gün. Daran hat sich die oppositionelle Sechserkoalition gehalten.

Angefangen bei der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP von Kılıçdaroğlu über die rechtsnationalistische İyi Parti von Akşener bis zu den beiden früheren AKP-Ministern Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan haben alle ihre eigenen Eitelkeiten dem gemeinsamen Ziel untergeordnet. Es gibt keine Misstöne oder Querschläger. Das gilt selbst für den Umgang mit der kurdischen HDP, obwohl Erdoğan genau an diesem Punkt versucht, die Opposition auseinanderzutreiben.

Peinliches Hin und Her

Bevor Kılıçdaroğlu am vergangenen Sonntag seinen Wahlkampfauftritt in Izmir feierte, hatte Erdoğan unmittelbar am Tag davor auf genau demselben Platz seinen ersten großen Liveauftritt nach seinem krankheitsbedingten Ausfall in der Vorwoche. Was eine Art Auferstehung hätte werden sollen, geriet tatsächlich zu einem eher peinlichen Hin und Her um die Frage: Kommt er, oder kommt nicht?

Obwohl der angeschlagene Präsident am Samstagvormittag schon live bei einer Waffenmesse am alten Istanbuler Flughafen aufgetreten war und deshalb alle in Izmir wussten, dass Erdoğan wieder auf den Beinen war, ließ er seine Fans fast drei Stunden im Ungewissen, ob er nun auftreten würde oder nicht.

Das Gerücht machte die Runde, Erdoğan sei enttäuscht, weil zu wenige Leute auf dem Platz wären, und er wolle deshalb nicht auftreten. "Nein das kann nicht stimmen", machte sich ein Senior am Rande der Menge Mut. "Unser Präsident kommt gleich." Die Stimmung, die sowieso nicht gerade enthusiastisch war, ging immer weiter in den Keller.

Als Erdoğan dann endlich doch noch auf der Bühne erschien, war er im Vergleich zu früheren Wahlkampagnen kaum wiederzuerkennen. Statt Aufbruchsstimmung zu verbreiten und neue Visionen vorzustellen, hatte er im Kern nur eine Botschaft: Kılıçdaroğlu sei der Kandidat der "PKK-Terroristen", weil die kurdische HDP neben vielen anderen auch zur Wahl des Oppositionsführers aufgerufen hatte. Deshalb drohe das Land in "die Hände der Terroristen" zu fallen. Eifrig werden von AKP-Trollen im Internet Falschmeldungen verbreitet, nach denen Kılıçdaroğlu vorhat, den historischen Führer der PKK, Abdullah Öcalan, aus dem Gefängnis zu entlassen und ein unabhängiges Kurdistan zu akzeptieren.

Erdoğan droht

Doch selbst bei den eigenen Anhängern kann er mit diesen immer wiederholten Vorwürfen kaum noch Empörung auslösen. Jeder weiß, dass Kılıçdaroğlu und seine Koalitionspartner nicht im Traum daran denken, solchen kurdischen Forderungen entgegenzukommen – auch wenn die HDP zur Wahl Kılıçdaroğlus aufruft.

Deshalb versteift sich der Präsident mehr und mehr auf Drohungen. "Einer Regierung von "Kandils Gnaden", dem Hauptquartier der PKK im Nordirak, "werden wir nicht dieses Land überlassen", sagte er wenige Tage nach seinem enttäuschenden Auftritt in Izmir. Schon zuvor hatte sein Innenminister orakelt, dass ein Sieg der Opposition "ein Putsch des Westens" wäre.

Je schlechter die Umfragen für Erdoğan aussehen, umso mehr nehmen die Drohungen zu. Wird der Präsident eine Niederlage überhaupt anerkennen, fragen sich deshalb immer mehr Menschen in der Türkei?

In den sozialen Medien wird davor gewarnt, sich von Drohungen irritieren zu lassen. "Geht wählen, nehmt eure Nachbarn mit, erteilt der Herrschaft eines Mannes eine klare Absage", ist auch die Aufforderung von Kılıçdaroğlu. "Je deutlicher die Niederlage der Regierung ist, umso schwieriger wird es ihnen fallen, durch Manipulation und Tricksereien unseren Sieg infrage zu stellen." (Jürgen Gottschlich aus Izmir, 6.5.2023)