Vor zwei Jahren hat Herbert Kickl die FPÖ übernommen. Nach der nächsten Nationalratswahl will er ins Kanzleramt einziehen.

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Er bezeichnet die Bundesregierung als eine Gruppe von "Amokläufern", den Kanzler als "Blindgänger", den Präsidenten nennt er den "größten Staats- und Demokratiegefährder". Wenn FPÖ-Obmann Herbert Kickl die Staatsspitze ins Visier nimmt oder das "Brüsseler EU-Establishment mit seinen Abzock- und Verbotsfantasien", fällt ein Kampfbegriff immer wieder: die "selbsternannten Eliten". In Kickls Diktion sind sie es, gegen die es vorzugehen gilt, damit "die armen Teufeln nicht jeden Tag von noch mehr Sorgen erschlagen werden".

Die FPÖ sieht Kickl hingegen als "das letzte Bollwerk der Normalität", das sich noch entgegenstemme. So erzählt es der drahtige Kärntner, der seit zwei Jahren die Freiheitlichen anführt, gerne bei jeder Gelegenheit. Kickl gilt als streitlustig, rhetorisch versiert und als Reizfigur: Er wird von seinen politischen Gegnern als Ideologe gefürchtet, der den Rechtsstaat nicht respektiert. Das Wort "gefährlich" fällt in den Beschreibungen seiner Kritiker oft. Seine Anhängerschaft hingegen feiert den FPÖ-Chef – und das nicht nur, weil er als verbaler Berserker auftritt. Auch, weil er sich bodenständig und empathisch gibt. Über drei Jahrzehnte hat sich Kickl nach vorne gearbeitet.

Nun steuert er das Kanzleramt an – mit guten Chancen. Wer seine Brandreden verfolgt, bekommt verlässlich Deftiges serviert. Doch was nach wilden rhetorischen Rundumschlägen klingt, ist in Wahrheit sehr viel mehr. "Die Erzählung, auf die Herbert Kickl setzt, lautet: Wir da unten gegen die da oben", sagt Politikberater Thomas Hofer im Gespräch mit dem STANDARD: "Es ist die Erzählung von Freiheit versus Unterdrückung."

"Strategisches Geschick"

Dieses Narrativ habe Kickl stark gemacht. Es funktioniere in krisenhaften Zeiten wie diesen besonders gut. Trotzdem sei es ein Irrglaube, dass diese Erzählung erst seit der Corona-Pandemie entstanden sei, sagt Hofer: Vielmehr ziehe sich diese darüber hinaus, reiche von Maßnahmen gegen die Erderhitzung bis zur politischen Korrektheit. Kickl spricht von "Corona-Diktatur", "Klima-Kommunismus" und "Gender-Wahnsinn", warnt vor "Völkerwanderung" ebenso wie vor "der Jagd auf den Verbrennermotor".

Dabei versucht Kickl, der Bevölkerung stets dieselbe Botschaft zu vermitteln: dass diese unterdrückt werde – sei es durch die Impfpflicht oder die westlichen Sanktionen gegen Russland. Ja, nicht einmal sagen dürfe man mehr alles. Jeder Erfolg in den Bundesländern, jede Umfrage, die der FPÖ Platz eins ausweist, gibt ihm recht: Der FPÖ gelingt es wie keiner anderen Partei, Frust und Zukunftsängste in der Bevölkerung einzufangen und in Wählerstimmen umzuwandeln.

Und das liegt ganz stark auch an Kickl. Er sei "ein sehr analytischer Kopf", den "strategisches Geschick" auszeichne, sagt Hofer. Anderen Parteien sei es bislang nicht gelungen, seiner Erzählung etwas entgegenzusetzen.

Einigen Freiheitlichen ist die Verblüffung über die blaue Erfolgswelle durchaus anzumerken. Vor zwei Jahren, als Kickl im Juni 2021 zum FPÖ-Chef gewählt wurde, ließ sich das noch nicht erahnen. Damals kämpfte die Partei noch mit den Nachwehen der Ibiza-Affäre. Auf das Publikwerden des Videos folgte im Mai 2019 ein Totalabsturz auf mehreren Ebenen: Heinz-Christian Strache musste als Parteichef zurücktreten, die Koalition zerbrach, die FPÖ erlitt eine Wahlschlappe nach der anderen.

Erfolge nach Totalabsturz

In Umfragen kamen die Freiheitlichen lange nicht vom Fleck – bis Kickl übernahm. Er schlug einen neuen, alles andere als risikofreien, dafür aber kompromisslosen Kurs ein. Kickl besetzte viele Thema wie kein Zweiter: Er marschierte mit Corona-Leugnern und Maßnahmengegnerinnen, die von Rechtsextremen angeführt wurden. Er mobilisierte gegen die Impfpflicht und propagierte ein Entwurmungsmittel als Covid-Behandlung.

Bei seinen Kritikern sorgte das für Empörung und Kopfschütteln, für die FPÖ hat es sich gelohnt: Erst holten sich im Herbst 2022 die Tiroler Freiheitlichen bei der Landtagswahl ein Plus. Dann trumpften die Blauen im Jänner in Niederösterreich auf, bilden mit der ÖVP sogar ein Bündnis. In Salzburg verhandeln sie aktuell mit der ÖVP über eine Koalition – es wäre die dritte schwarz-blaue Regierung auf Landesebene.

Mit jedem weiteren Land, in dem die Blauen eine Regierung schmieden, rückt auch die Kanzlerschaft für Kickl ein Stück näher. Oberösterreichs Landesparteichef Manfred Haimbuchner, der dort in zweiter Legislaturperiode mit den Schwarzen koaliert, hält "Regieren" für "Pflicht", wie er unlängst in einem Interview mit der Presse sagte. Die FPÖ solle "zeigen, dass es über den Weg der Länder funktioniert".

Auch in der ÖVP bröckeln derzeit die Fronten, die sich bislang gegen die FPÖ, vor allem eine unter Kickl, ausgesprochen hatten. Und auch inhaltlich hat sich die Volkspartei wieder weiter nach rechts bewegt – in Richtung FPÖ.

Das Ziel: Der "Volkskanzler"

Nach der Hochphase unter Jörg Haider und der Ära Strache befinden sich die Freiheitlichen zum dritten Mal in ihrer Geschichte auf einem Höhenflug. In bundesweiten Umfragen rangiert die FPÖ mit mittlerweile 30 Prozent seit langem in der Poleposition.

Den Tag der Arbeit nutzte Kickl diese Woche, um bei der traditionellen blauen Kundgebung in Linz den Kanzleranspruch zu untermauern: Ein "freiheitlicher Volkskanzler" wolle er werden, der nicht "nach oben buckeln" werde "in Richtung EU, Nato, Weltgesundheitsorganisation", um "dann nach unten zu treten, zur Bevölkerung, die alles austragen muss". Das sei auch der Unterschied zu "den Kanzlern des Systems, die uns immer regiert haben". Und Kickl richtete der schwarz-grünen Regierung aus: "2030 geht euch nichts mehr an, da gibt es einen anderen Bundeskanzler, und der weiß, was er zu tun hat." Keine der anderen Parteien, auch nicht der Bundespräsident, könnte die FPÖ stoppen.

Selbst der Finanzskandal der FPÖ Steiermark hat Kickl bislang in Umfragen nicht geschadet, obwohl er Ex-Verteidigungsminister und Landesparteichef Mario Kunasek dabei half, jene aus der Partei auszuschließen, die den Verbleib der Millionen Steuergelder aufklären wollten. Nach der Aufhebung der Immunität von Kunasek im Landtag vor zwei Wochen beginnt die Staatsanwaltschaft in diesen Tagen auch gegen ihn als Beschuldigten zu ermitteln. Beschuldigter Mario Eustacchio war zudem Finanzprüfer in der Bundes-FPÖ.

Planmäßig findet die nächste Nationalratswahl im Herbst 2024 statt, doch der Vorwahlkampf läuft bereits. Auch in der FPÖ sind die Vorbereitungen längst im Gange. Den Jahresbeginn hat man für den Start einer Plakatkampagne genutzt. Kickl ruft auf dem Sujet zur Errichtung einer "Festung Österreich" auf. STANDARD-Informationen zufolge will die FPÖ im Juni eine neue Kampagne aus der Taufe heben.

Nicht nur thematisch, auch finanziell dürfte die FPÖ für einen Wahlkampf gewappnet sein. Im Gegensatz zu ÖVP und SPÖ ist die FPÖ schuldenfrei – das verlautbarte Bundesfinanzreferent Hubert Fuchs beim Bundesparteitag im September. Es sei gelungen, "Altlasten zur Gänze abzubauen und gleichzeitig auch für kommende Wahlkämpfe gerüstet zu sein", sagte Fuchs. Daran habe sich bis heute laut einem Sprecher Kickls nichts geändert, man stehe auch weiterhin "gut da": "Wir sind finanziell bereit, wann auch immer es zu Wahlen kommt."

Der Absturz und der Wiederaufstieg der Rechten, diese Entwicklung kommt in Wellen – nicht nur in Österreich. Die christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa waren seit dem Zweiten Weltkrieg lange große Mehrheiten gewöhnt, verlieren aber stetig an Rückhalt. Es gibt viele Beispiele für rechtspopulistische Parteien, die sich am ganzen Kontinent als fixe Größe und wesentliche Alternative etabliert haben.

In Italien etwa regiert seit Herbst des Vorjahres ein rechtes Bündnis, das von der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia angeführt wird. Die "Brüder Italiens" stellen mit Giorgia Meloni auch die Ministerpräsidentin. Ein Grund für ihren Erfolg ist die Zunahme der irregulären Migration, eines der Leibthemen der Rechten, das inzwischen auch andere Parteien für sich entdeckt haben.

Meloni, die als Oppositionspolitikerin für ihre EU-Attacken bekannt war, koaliert mit zwei Parteien, die stets durch große Sympathien für Russland aufgefallen sind. Dass sie in ihrer Regierungsfunktion aber gemäßigt auftritt und in Ukraine-Fragen nie ausscherte, hat sie in Brüssel zum umworbenen Darling der Rechten gemacht.

Internationale Vernetzung

Teile der Europäischen Volkspartei versuchen nun, sie für die konservative Fraktion des EU-Parlaments anzuwerben. Kanzler Karl Nehammer stattete Meloni Anfang der Woche einen Besuch ab. In Migrationsfragen teile man "eine Linie", hielten die beiden in Rom fest. FPÖ-Chef Kickl hingegen sandte diese Woche eine Videobotschaft in die ungarische Hauptstadt. In Budapest ging das Treffen der Conservative Political Action Conference (CPAC) über die Bühne. Einer der Hauptredner war Ungarns nationalkonservativer Regierungschef Viktor Orbán.

Auf der Liste der Teilnehmenden fand sich das internationale Who’s who der Rechts-außen-Kräfte – darunter viele aus Europa, aber auch Amerikaner oder der brasilianische Abgeordnete Eduardo Bolsonaro, Sohn von Ex-Präsident Jair Bolsonaro. Die CPAC will sich nach eigenem Bekunden "auf den Albtraum der Liberalen" konzentrieren: auf die "internationale Annäherung nationaler Kräfte". Die CPAC-Konferenz stammt aus den USA, wo sie sich zum Sammelbecken der amerikanischen Neurechten entwickelt hat.

Persönlich nahmen seitens der FPÖ Generalsekretär Christian Hafenecker und der EU-Abgeordnete Harald Vilimsky teil. Gute Beziehungen in den Osten, vor allem nach Russland, pflegt die FPÖ schon länger. Neuerdings knüpft sie immer stärkere Bande mit Teilen der US-Republikaner. Vilimsky setzt sich dafür ein, die FPÖ zu einer Vorreiterin in einem breiten internationalen Netzwerk gleichgesinnter Parteien zu machen. Mit dem Rechts-außen-Flügel der Republikaner verbindet die FPÖ die ablehnende Haltung gegen Zuwanderung oder auch der Kampf gegen die Rechte sexueller Minderheiten, momentan etwa vor allem gegen Dragqueens oder Transpersonen.

Die FPÖ ist also vernetzt, finanziell gerüstet und setzt auf die aus ihrer Sicht richtigen Themen – ist Kickl somit wirklich nicht zu stoppen? Seit Haider die FPÖ zu einer Großpartei gemacht hat, existiert – mit der ÖVP – eine rechte Mehrheit in Österreich. Gemeinsam kommen sie fast immer auf über 50 Prozent.

Wer sich politisch nicht in diesem Lager verortet, setzt dieser Tage hingegen Hoffnungen darauf, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen einen Kanzler Herbert Kickl nicht angeloben oder sonst wie verhindern würde. Van der Bellen hat sich im Jänner dieses Jahres bei seiner eigenen Angelobung zur zweiten Amtszeit so geäußert, dass bei vielen der Eindruck entstehen konnte, dies sei möglich. In einem ORF-Interview im Jänner 2023 ließ er durchblicken, Kickl könne sich im Falle eines allfälligen Wahlsiegs nicht sicher sein, den Auftrag zur Regierungsbildung zu bekommen: Er werde "eine antieuropäische Partei, eine Partei, die den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt, nicht durch meine Maßnahmen noch zu befördern versuchen".

Mögliche Wellenbrecher

Ob Van der Bellen Kickl angeloben würde, ließ er offen. Die wichtigste Kompetenz des Bundespräsidenten ist die Regierungsbildung. Er ernennt den Kanzler oder die Kanzlerin. Aber kann ein Präsident, eine Präsidentin tatsächlich jene Person, die eine parlamentarische Mehrheit hinter sich hat, verhindern? Verfassungsrechtler Heinz Mayer bringt es auf den Punkt: "Er kann ihn bremsen, aber nicht stoppen."

Würde Kickl über eine parlamentarische Mehrheit verfügen, so gäbe es letztlich keine rechtliche Möglichkeit für den Präsidenten, ihn als Kanzler zu verhindern. Theoretisch aber kann ein Präsident so hoch pokern, dass er die Parteien zwingt, Kompromisse einzugehen – im Extremfall könnte das bedeuten, auf Kickl als Kanzler zu verzichten. Wie wahrscheinlich das ist, bleibt die Frage. Denn bei allen Aktionen, die der Präsident setzt, muss man laut Politikexperten Peter Filzmaier immer die Frage stellen: "Was passiert dann?" So beschreibt es Filzmaier in seinem und Armin Wolfs Buch Der Professor und der Wolf.

Ausgangspunkt in allen Szenarien ist immer eine entsprechende Mehrheit im Parlament, die eine Regierung bilden oder dulden will. Angenommen, nach einem entsprechenden Wahlerfolg wollen ÖVP und FPÖ eine Koalition bilden mit einem, weil es sich aus den Verhältnissen so ergibt, Herbert Kickl als Kanzler. Van der Bellen könnte nun an Kickls Stelle jemanden seines Vertrauens mit dem Amt betrauen.

Aber diese Person bräuchte eben eine Mehrheit im Parlament. Sonst würde eine von ihm zusammengestellte Regierung keinen Tag überleben, weil sie durch ein Misstrauensvotum gestürzt würde. Es entstünde also laut Mayer eine "höchst ungute politische Situation", die leicht in eine Verfassungskrise mündet. Denn der Präsident kann zwar den Nationalrat auflösen, aber nur auf Vorschlag einer Bundesregierung, und auch nur einmal aus demselben Anlass. Theoretisch könnte der Bundespräsident Personen seines Vertrauens mit Kanzlerschaft und Regierung betrauen, die ihm sofort eine Auflösung des Nationalrats und Neuwahlen vorschlagen. Bis zu den Neuwahlen kann der Präsident mit Notverordnungen regieren. Damit befände man sich aber, so meint nicht nur Filzmaier, "am Rande eines Staatsstreichs". Wenn der Präsident und eine parlamentarische Mehrheit derart auf Konfrontationskurs gehen, dann bleibt ihm politisch letztlich nur der Rücktritt.

Bietet die Zeitgeschichte einen Anhaltspunkt? In den frühen Jahren der Republik legte sich Bundespräsident Theodor Körner erfolgreich gegen den Plan der ÖVP quer, die VdU – der FPÖ-Vorläufer, der aus zahlreichen ehemaligen Nazis bestand – in eine Regierung aufzunehmen; im Jahr 2000 wollte Bundespräsident Thomas Klestil die bereits ausverhandelte Koalition von Wolfgang Schüssel und Jörg Haider verhindern. Vergeblich: Parlamentarische Mehrheit war Mehrheit. Klestil konnte gerade noch zwei FPÖ-Minister verhindern und eine "Präambel" mit Bekenntnis zur EU zum Koalitionsvertrag durchsetzen.

Gibt es sie also nicht, die Wellenbrecher? Eine Option steht noch im Raum – etwas, das "Van-der-Bellen-Koalition" genannt wird. Van der Bellen wurde 2016 von SPÖlern, ÖVPlern, Grünen und Liberalen gewählt, die ein Hauptmotiv einte: Norbert Hofer als rechten Präsidenten zu verhindern. Lässt sich daraus eine Koalition zur Verhinderung von Kickl neuorganisieren? Dazu bräuchte es Anhänger der SPÖ, Grünen, Neos, liberale ÖVP-Wähler und freie Linke. Nur: Wer würde diese Koalition bauen und anführen?

Während schon jetzt Theorien zur Verhinderung eines Kanzlers Kickl gewälzt werden, scharrt der FPÖ-Chef in den Startlöchern, um das Kanzleramt zu übernehmen. Die Welle, auf der die Blauen dieser Tage surfen, könnte ihn tatsächlich auf den Ballhausplatz spülen. (Anna Giulia Fink, Hans Rauscher, Sandra Schieder, 6.5.2023)