Schon im April 2022 machten sich internationale Ermittler in Butscha ein Bild. Die Uno leitete Untersuchungen ein.

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Ein Forensiker bereitet sich nahe Isjum auf seine Arbeit vor.

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Die Bilder aus dem ukrainischen Butscha sind nach dem Abzug der russischen Truppen vor einem Jahr um die Welt gegangen: Ein Mann liegt auf der Straße unter seinem Fahrrad, von dem er offensichtlich heruntergeschossen wurde. Ein anderer, offenbar vom Einkaufen zurückgekehrt, liegt mit einer Tragtasche unter sich begraben da, ein Dritter mit den Händen auf dem Rücken gefesselt.

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DER STANDARD

Es sind schreckliche Bilder. Allein, François Heulard lässt sich nichts anmerken. "Wir Militärs müssen mit komplizierten Situationen umgehen können", sagt der Oberst der Gendarmerie und Leiter des Instituts für kriminelle Forschung. Das zur französischen Armee zählende Institut pour la recherche criminelle (IRC) ist spezialisiert auf komplizierte Missionen. Dank seiner internationalen Reputation kam es schon beim Tsunami in Thailand von 2004 zum Einsatz, dazu auch bei Flugzeugabstürzen in Afrika oder beim Terroranschlag in Nizza. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj darum bat, das fahrbare DNA-Labor im Kiewer Vorort Butscha einsetzen zu können, willigte sein Amtskollege Emmanuel Macron sofort ein.

Knochen- und Haarproben

Vor knapp einem Jahr fuhr Heulard mit 20 Wissenschaftern und einem Konvoi aus einem Dutzend Fahrzeugen nach Butscha, um Beweise für das Massaker an der Zivilbevölkerung zu sammeln. In fünf Wochen untersuchten sie 200 Leichen, nahmen Fingerabdrücke, Knochen- und Haarproben.

Die Mission bestand in erster Linie darin, die Verstorbenen zu identifizieren, dann aber auch die Todesursachen zu eruieren. "Die lagen zwar teilweise auf der Hand", erklärt Heulard am IRC-Sitz in Pontoise, nordwestlich von Paris. "Wichtig waren bei Schussverletzungen das Kaliber der Waffen, die Einschussachse oder die Existenz von Pulverspuren." Das lässt auf die Schussdistanz schließen oder auch auf den Einsatz von völkerrechtlich geächteten Streubomben. "Ihre Wirkung auf einen menschlichen Körper ist charakteristisch", führt Heulard aus. "Wir beschreiben aber in unserer Expertise einzig den Impact, die Interpretation obliegt den Justizermittlern. Wir sind Wissenschafter, wir stellen nur die objektiven Fakten sicher."

Schusswinkel und zerbrochene Tassen

Ein 30-Millimeter-Loch in der Wand, der Schusswinkel und eine zerbrochene Tasse lassen zum Beispiel die Annahme zu, dass ein jüngerer Mann in Butscha gerade am Abwaschen war, als ein russisches Panzergeschoss die Mauer und den Oberkörper des zivilen Opfers durchbohrte. Doch Heulard betont, dass in seinem Bericht nur Fakten stünden, und nichts von Tätern. "Wir nehmen nur die Daten auf und erstatten der Staatsanwaltschaft in Kiew Bericht. Sie leitet ihn an das Internationale Strafgericht in Den Haag weiter."

Oder an das von Selenskyj geforderte Ukraine-Sondergericht? "Das ist eine politische Frage, darum haben wir uns nicht zu kümmern", sagt der IRC-Leiter. Er äußert sich auch nicht zur Frage, ob der russische Präsident Wladimir Putin vor ein internationales Gericht gehört: "Das ist nicht unsere Arbeit. Für die Täterseite sind die Richter zuständig."

Spuren von Folter

Die IRC-Gendarmen hatten schon genug damit zu tun, Hunderte von Toten aus der Leichenhalle und den Massengräbern zu untersuchen: "Die ausgegrabenen Körper waren in einem sehr, sehr schlechten Zustand. Einige trugen zudem Spuren von Folter, von Vergewaltigung." Hart war das auch für die IRC-Prüfer, die einiges gewohnt sind – beim Absturz der Germanwings-Maschine 2015 in den französischen Alpen hatten sie wochenlang Leichenteile zusammensetzen müssen.

"In Butscha war die mentale Belastung auch wegen des Krieges sehr groß", erinnert sich der grauhaarige IRC-Chef. Da viele Familien die Körper identifizieren wollten, nahmen die Franzosen auch vergleichende DNA-Proben von den Gesuch stellenden Angehörigen. Das verstärkte das menschliche Empfinden. "Wenn man von Familien eine Packung Bonbons erhält, weil sie einen Verstorbenen ausgemacht haben, den sie endlich beerdigen können, geht einem das schon nahe", sagt der sonst so trockene IRC-Chef mit einem leichten Hüsteln.

Im Forschungsgebäude in Pontoise zeigt er lieber das fahrbare Labor, das in Butscha zum Einsatz gekommen ist. Es erlaubt bis zu 45 DNA-Tests am Tag. Ein zweites Labor in Form eines Lieferwagens ist in Isjum im Einsatz. In der ostukrainischen Stadt, die wieder befreit ist, hatten russische Schergen ebenfalls Massaker angerichtet und sogar flüchtende Familien, darunter elf Kinder, getötet.

Wiederaufbau Butschas

Angesichts des Horrors zeigt sich François Heulard umso beeindruckter von der ukrainischen Bevölkerung: "Zu Beginn unseres Aufenthalts in Butscha arbeiteten wir unter Kriegsbedingungen, unwissend, ob wir selber angegriffen würden. Als unsere Mission fünf Wochen später zu Ende ging, war der Wiederaufbau der Stadt bereits fortgeschritten; städtische Angestellte reinigten die Straßen und pflanzten Blumen."

Momentan plant das mobile IRC-Labor eine dritte, noch vertrauliche Mission in der Ukraine. Die Gendarmen stehen zudem bereit, falls die Ukrainer in einer Frühlingsoffensive weitere Städte zurückerobern sollten. "Wer weiß", sinniert Oberst Heulard, "was dort noch ans Tageslicht kommen wird." (Stefan Brändle aus Pontoise, 8.5.2023)